„Die Vorstellungskraft interessiert mich mehr als die Realität“
Nino Haratischwili über ihren Roman "Das achte Leben (Für Brilka)", ihr Interesse am 20. Jahrhundert und die kathartische Kraft der Kunst
Mit einer Dramatisierung des Erfolgsromans „Das achte Leben (Für Brilka)“ von Nino Haratischwili beginnt am 23. August die neue Spielzeit am Hans Otto Theater. Das gefeierte georgische Familienepos spannt den Bogen von der Zarenzeit über den Aufstieg und Fall der Sowjetunion bis in unsere Gegenwart. In Potsdam bringt es die Regisseurin Konstanze Lauterbach in einer eigenen Fassung auf die Bühne.
Frau Haratischwili, Ihr Roman „Das achte Leben (Für Brilka)“ ist umwerfend, erschütternd, einzigartig. Wie zum Teufel haben Sie das angestellt?
Nino Haratischwili: Ich habe einfach losgeschrieben, ohne mir groß Gedanken zu machen, wo es mich hintreiben würde. Ich wusste, es würde eine lange Odyssee werden. Aber vor allem war es ein großes Geschenk, dass das Buch so viele Leser*innen gefunden hat und sich so viele Menschen für die Geschichten der Jaschis interessiert haben.
Wann genau haben Sie den Gedanken gefasst, „Das achte Leben“ zu schreiben?
Es gab schon immer ein großes Interesse am 20. Jahrhundert und ein Wissen darum, dass meine Kenntnisse sehr lückenhaft waren. Ich habe mit Schrecken festgestellt, dass mein Wissen um meine Vergangenheit vor allem westlich geprägt war. Ich wusste z. B. mehr über den Nationalsozialismus als über den Kommunismus. Das lag auch daran, dass Georgien in den letzten 25 Jahren viele Kämpfe und Kriege überstanden hat und sich komplett neu definieren, alles neu aufbauen musste. Die Aufarbeitung der eigenen Geschichte stand da leider nicht im Vordergrund. Ich habe dann insgesamt vier Jahre mit „Brilka“ verbracht.
Sie selbst beschreiben Ihre Kindheit als „Frauen-Overload“. Auch in „Das achte Leben“ entspinnt sich die Geschichte ausgehend von dem Schwesternpaar Stasia und Christine. Wieviel von Ihrer persönlichen Geschichte steckt darin?
Ich bin sehr „normal“ mit meinen Eltern groß geworden, aber die Großmütter und die restlichen Frauen meiner Familie haben schon immer eine große Rolle gespielt und einen großen Einfluss auf mich gehabt. Jedes Buch und jedes Stück, das ich schreibe, ist persönlich – aber nicht autobiografisch. Die Vorstellungskraft interessiert mich beim Schreiben mehr als die Realität.
Haben Sie eine Lieblingsfigur im Roman?
Kann ich nicht sagen. Ich habe mit allen so viel Zeit vebracht, dass sie ein Teil meiner Welt geworden sind. Als hätte ich sie wirklich alle gekannt.
Stasia, die „große Geschichtenerzählerin“, könnte die heimliche Hauptfigur des Romans sein, jedenfalls ist sie die einzige, die fast alle anderen Leben überdauert, bis sie schließlich mit 99 Jahren stirbt. Niza, die Erzählerin und Stasias Urenkelin, verdankt ihr unendlich viel. Am Ende ist es die junge Brilka, Nizas Nichte, die Stasias Traum leben wird – zu tanzen. Ein Happy End, nach so vielen Grausamkeiten, vielleicht?
Na ja, Happy End weiß ich nicht so recht. Aber zumindest eine Hoffnung, dass sie es anders haben wird, dass sie ihren Weg gehen und ihre Geschichte selbst schreiben wird.
Das Schreiben als Erlösung von einer unerträglichen Vergangenheit und der Tanz als Befreiung im Moment sind Hoffnungszeichen, die im Roman aufscheinen. Glauben Sie an die heilsame Kraft der Kunst?
Ich glaube nicht, dass die Kunst etwas verhindern oder abwenden kann, sonst wäre die Menschheit so viel weiter und so viele Grausamkeiten gäbe es nicht mehr… Aber natürlich glaube ich an die kathartische Kraft der Kunst, an eine individuelle Erfahrung, die den Blick verändert. Ich selbst habe ihr viele wunderbare Erkenntnisse und Erfahrungen zu verdanken.
An einer Stelle im Roman beschreibt Niza, wie es sein sollte, wenn man auf die Welt kommt, nämlich: „liebevolle Eltern, ein freies Land ohne Breschnew – und Lou Reed für alle“. Sind diese Voraussetzungen in Ihren Augen heute gegeben?
Leider nicht überall, nein. Wir leben natürlich in einer privilegierten Welt, und da vergisst man schnell, dass es andernorts ganz anders ist. Es gibt leider noch genügend Breschnews und weitaus schlimmere Tyrannen.
Was bedeutet es Ihnen, wenn „Das achte Leben“ nun zum ersten Mal an einem ostdeutschen Theater aufgeführt wird?
Das wird eine spannende Erfahrung. Ich finde es interessant mitzuerleben, ob das Buch bzw. die Inszenierung im Osten anders verstanden und erlebt wird als im Westen – und wenn ja, wo die Unterschiede sind. Als ich auf Lesereise war, oft auch im Osten, habe ich mich natürlich viel mit den Leser*innen unterhalten, und da gab es schon viel mehr Anknüpfungspunkte. Viele kannten einiges aus dem Buch, und doch darf man den Osten nicht pauschalisieren. Die Georgische SSR und die DDR waren zwei verschiedene Welten, wenn es auch einige Parallelen gibt.
Spielen die Gespenster noch immer Karten unterm Kirschbaum im Garten des Grünen Hauses? Oder sind sie mit Stasias Tod für immer verschwunden?
Ich hoffe, dass sie es noch tun...
Und Sie – spielen Sie noch ab und zu Poker?
Hahaha, ich habe absolut keine Ahnung von Poker. Habe ich nie gespielt. Aber vielleicht bringt es mir ja eines Tages jemand bei.
Wir würden uns freuen, Sie am 23. August bei der Premiere begrüßen zu können. Kommen Sie?
Ich werde mein Bestes versuchen.
Interview: Björn Achenbach / Mitarbeit: Elena Iris Fichtner
Frau Haratischwili, Ihr Roman „Das achte Leben (Für Brilka)“ ist umwerfend, erschütternd, einzigartig. Wie zum Teufel haben Sie das angestellt?
Nino Haratischwili: Ich habe einfach losgeschrieben, ohne mir groß Gedanken zu machen, wo es mich hintreiben würde. Ich wusste, es würde eine lange Odyssee werden. Aber vor allem war es ein großes Geschenk, dass das Buch so viele Leser*innen gefunden hat und sich so viele Menschen für die Geschichten der Jaschis interessiert haben.
Wann genau haben Sie den Gedanken gefasst, „Das achte Leben“ zu schreiben?
Es gab schon immer ein großes Interesse am 20. Jahrhundert und ein Wissen darum, dass meine Kenntnisse sehr lückenhaft waren. Ich habe mit Schrecken festgestellt, dass mein Wissen um meine Vergangenheit vor allem westlich geprägt war. Ich wusste z. B. mehr über den Nationalsozialismus als über den Kommunismus. Das lag auch daran, dass Georgien in den letzten 25 Jahren viele Kämpfe und Kriege überstanden hat und sich komplett neu definieren, alles neu aufbauen musste. Die Aufarbeitung der eigenen Geschichte stand da leider nicht im Vordergrund. Ich habe dann insgesamt vier Jahre mit „Brilka“ verbracht.
Sie selbst beschreiben Ihre Kindheit als „Frauen-Overload“. Auch in „Das achte Leben“ entspinnt sich die Geschichte ausgehend von dem Schwesternpaar Stasia und Christine. Wieviel von Ihrer persönlichen Geschichte steckt darin?
Ich bin sehr „normal“ mit meinen Eltern groß geworden, aber die Großmütter und die restlichen Frauen meiner Familie haben schon immer eine große Rolle gespielt und einen großen Einfluss auf mich gehabt. Jedes Buch und jedes Stück, das ich schreibe, ist persönlich – aber nicht autobiografisch. Die Vorstellungskraft interessiert mich beim Schreiben mehr als die Realität.
Haben Sie eine Lieblingsfigur im Roman?
Kann ich nicht sagen. Ich habe mit allen so viel Zeit vebracht, dass sie ein Teil meiner Welt geworden sind. Als hätte ich sie wirklich alle gekannt.
Stasia, die „große Geschichtenerzählerin“, könnte die heimliche Hauptfigur des Romans sein, jedenfalls ist sie die einzige, die fast alle anderen Leben überdauert, bis sie schließlich mit 99 Jahren stirbt. Niza, die Erzählerin und Stasias Urenkelin, verdankt ihr unendlich viel. Am Ende ist es die junge Brilka, Nizas Nichte, die Stasias Traum leben wird – zu tanzen. Ein Happy End, nach so vielen Grausamkeiten, vielleicht?
Na ja, Happy End weiß ich nicht so recht. Aber zumindest eine Hoffnung, dass sie es anders haben wird, dass sie ihren Weg gehen und ihre Geschichte selbst schreiben wird.
Das Schreiben als Erlösung von einer unerträglichen Vergangenheit und der Tanz als Befreiung im Moment sind Hoffnungszeichen, die im Roman aufscheinen. Glauben Sie an die heilsame Kraft der Kunst?
Ich glaube nicht, dass die Kunst etwas verhindern oder abwenden kann, sonst wäre die Menschheit so viel weiter und so viele Grausamkeiten gäbe es nicht mehr… Aber natürlich glaube ich an die kathartische Kraft der Kunst, an eine individuelle Erfahrung, die den Blick verändert. Ich selbst habe ihr viele wunderbare Erkenntnisse und Erfahrungen zu verdanken.
An einer Stelle im Roman beschreibt Niza, wie es sein sollte, wenn man auf die Welt kommt, nämlich: „liebevolle Eltern, ein freies Land ohne Breschnew – und Lou Reed für alle“. Sind diese Voraussetzungen in Ihren Augen heute gegeben?
Leider nicht überall, nein. Wir leben natürlich in einer privilegierten Welt, und da vergisst man schnell, dass es andernorts ganz anders ist. Es gibt leider noch genügend Breschnews und weitaus schlimmere Tyrannen.
Was bedeutet es Ihnen, wenn „Das achte Leben“ nun zum ersten Mal an einem ostdeutschen Theater aufgeführt wird?
Das wird eine spannende Erfahrung. Ich finde es interessant mitzuerleben, ob das Buch bzw. die Inszenierung im Osten anders verstanden und erlebt wird als im Westen – und wenn ja, wo die Unterschiede sind. Als ich auf Lesereise war, oft auch im Osten, habe ich mich natürlich viel mit den Leser*innen unterhalten, und da gab es schon viel mehr Anknüpfungspunkte. Viele kannten einiges aus dem Buch, und doch darf man den Osten nicht pauschalisieren. Die Georgische SSR und die DDR waren zwei verschiedene Welten, wenn es auch einige Parallelen gibt.
Spielen die Gespenster noch immer Karten unterm Kirschbaum im Garten des Grünen Hauses? Oder sind sie mit Stasias Tod für immer verschwunden?
Ich hoffe, dass sie es noch tun...
Und Sie – spielen Sie noch ab und zu Poker?
Hahaha, ich habe absolut keine Ahnung von Poker. Habe ich nie gespielt. Aber vielleicht bringt es mir ja eines Tages jemand bei.
Wir würden uns freuen, Sie am 23. August bei der Premiere begrüßen zu können. Kommen Sie?
Ich werde mein Bestes versuchen.
Interview: Björn Achenbach / Mitarbeit: Elena Iris Fichtner
Veröffentlicht in ZUGABE MAGAZIN 03-2019