Ein Welt-Mensch
Am 30. Juni ist der Regisseur Rolf Winkelgrund im Alter von 85 Jahren gestorben. Ein Nachruf von Tatjana Rese
Ich lernte Rolf Winkelgrund als junge Regieassistentin am Deutschen Theater kennen. Ich assistierte ihm bei der Inszenierung "Die weiße Ehe" von Tadeusz Rózewicz. Da das Deutsche Theater renoviert wurde, waren wir mit unseren Aufführungen in den anderen Berliner Theatern zu Gast. Und wir probten an den ungewöhnlichsten Orten. So kam es, dass ich jeden Morgen neben Winkelgrund, dem Regisseur mit Zigarre und Tragebeutel - damals und viele Jahre aus schwarzem Kunstlack - in die Kleingartenanlage Bornholm marschierte, in deren Vereinshaus wir probten. Das allein war grotesk, so wie das Stück von Rózewicz auf seine besondere Weise auch.
Seit dieser Zeit sah ich mir alle seine Inszenierungen am Hans Otto Theater in Potsdam an, wo er Oberspielleiter war und über Jahre den künstlerischen Stil des Hauses wesentlich prägte. Es waren besondere Aufführungen und für mich zum Teil neue literarische Begegnungen: Athol Fugard, Alonso Alegria, Stephan Schütz, wie auch Seán O’Casey oder García Lorca, beide auf den DDR-Bühnen selten gespielt. Es war immer die andere Literatur, das Unentdeckte, das wieder zu Entdeckende oder auch das Ungewollte, das Winkelgrund auf die Bühne brachte.
Nach einer erfolgreichen Aufführung von "Die Überquerung des Niagarafalls", inszenierte er die Uraufführung von Alegrias "Der weiße Anzug". Ich arbeitete als Regie- und Dramaturgieassistentin an dieser Aufführung mit.
Es war ein politischer Coup, diese poetische Parabel auf den korrumpierten, real existierenden Sozialismus, dieses Volkstheater über das Verlorengehen eines Traums vom gerechten Leben für alle auf die Bühne zu bringen. Dafür pilgerte man nicht nur aus Berlin ans Potsdamer Theater.
In der Theaterlandschaft nahm Winkelgrund einen ganz besonderen Platz ein; ein verspielter und spielender Intellektueller, ein Kenner der Weltliteratur mit ab- und hintergründigem Sinn für Abwegiges, offen für Fremdes, jenseits des Mainstreams. Er war ein spiritueller Schelm, ein leiser Ironiker und Spaßmacher.
Die Ostberliner Theaterszene der 80er Jahre verdankt ihn viele selten gespielten Stücke. Ich denke an die beiden großen Barlach-Aufführungen am Deutschen Theater "Der Blaue Boll" und "Die echten Sedemunds" oder "Der Eismann kommt" von Eugene O'Neill .
Wir wurden Freunde über die Jahre, vertraut, mit der für ihn typischen, ihn schützend umgebenden Distanz. Als er nicht mehr in Berlin arbeiteten konnte, inszenierte er weiter am Schauspiel Chemnitz. Ich war inzwischen Schauspieldirektorin am Staatstheater Braunschweig und lud ihn für drei Inszenierungen ein, u. a. zur Deutschen Erstaufführung des holländische Dramatikers Karst Woudstra "Das Stile Grauen eines Wintertages in Ostende", ein Stück, das zu ihm passte. Winkelgrund blieb sich treu und auch seinem Tragebeutel. Zigarren rauchte er damals schon nicht mehr, und dem Alkohol hatte er schon entsagt, bevor wir uns kennenlernten. Es kursierten allerdings noch die schönsten Anekdoten am Potsdamer Theater. Nach einem zweiten Schlaganfall zog er sich aus dem Theater zurück.
Winkelgrunds Leisheit war keinesfalls Bescheidenheit, sie war sein ironischer Kommentar auf laute Selbstdarstellung. Dies mit aller Vornehmheit. Er war ein Welt-Mensch. Er bereiste die Welt, wann immer es ihm möglich war; dabei wurden die Reisen akribisch geplant, damals noch ganz ohne Google und nur auf Landkarten und mithilfe von Büchern. Und er bereiste die Welt in und mit der Literatur. Dies bis zuletzt. Ich sehe ihn in seinem mecklenburgischen Haus am Fenster sitzen, umgeben von den riesigen Stapeln von gelesenen und noch zu lesenden Büchern.
Winkelgrund, Du warst für mich eine ganz besondere und bereichernde Begegnung.
Ich wünsche Dir einen guten Flug!
Deine Rese
Tatjana Rese war Regieassistentin und Dramaturgin am Deutschen Theater Berlin, Schauspieldirektorin am Staatstheater Braunschweig, am Landestheater Detmold und zwischenzeitlich immer wieder als freie Regisseurin und Autorin tätig. Seit 2018 ist sie Schauspieldirektorin an der Theater und Orchester GmbH Neubrandenburg / Neustrelitz.
Seit dieser Zeit sah ich mir alle seine Inszenierungen am Hans Otto Theater in Potsdam an, wo er Oberspielleiter war und über Jahre den künstlerischen Stil des Hauses wesentlich prägte. Es waren besondere Aufführungen und für mich zum Teil neue literarische Begegnungen: Athol Fugard, Alonso Alegria, Stephan Schütz, wie auch Seán O’Casey oder García Lorca, beide auf den DDR-Bühnen selten gespielt. Es war immer die andere Literatur, das Unentdeckte, das wieder zu Entdeckende oder auch das Ungewollte, das Winkelgrund auf die Bühne brachte.
Nach einer erfolgreichen Aufführung von "Die Überquerung des Niagarafalls", inszenierte er die Uraufführung von Alegrias "Der weiße Anzug". Ich arbeitete als Regie- und Dramaturgieassistentin an dieser Aufführung mit.
Es war ein politischer Coup, diese poetische Parabel auf den korrumpierten, real existierenden Sozialismus, dieses Volkstheater über das Verlorengehen eines Traums vom gerechten Leben für alle auf die Bühne zu bringen. Dafür pilgerte man nicht nur aus Berlin ans Potsdamer Theater.
In der Theaterlandschaft nahm Winkelgrund einen ganz besonderen Platz ein; ein verspielter und spielender Intellektueller, ein Kenner der Weltliteratur mit ab- und hintergründigem Sinn für Abwegiges, offen für Fremdes, jenseits des Mainstreams. Er war ein spiritueller Schelm, ein leiser Ironiker und Spaßmacher.
Die Ostberliner Theaterszene der 80er Jahre verdankt ihn viele selten gespielten Stücke. Ich denke an die beiden großen Barlach-Aufführungen am Deutschen Theater "Der Blaue Boll" und "Die echten Sedemunds" oder "Der Eismann kommt" von Eugene O'Neill .
Wir wurden Freunde über die Jahre, vertraut, mit der für ihn typischen, ihn schützend umgebenden Distanz. Als er nicht mehr in Berlin arbeiteten konnte, inszenierte er weiter am Schauspiel Chemnitz. Ich war inzwischen Schauspieldirektorin am Staatstheater Braunschweig und lud ihn für drei Inszenierungen ein, u. a. zur Deutschen Erstaufführung des holländische Dramatikers Karst Woudstra "Das Stile Grauen eines Wintertages in Ostende", ein Stück, das zu ihm passte. Winkelgrund blieb sich treu und auch seinem Tragebeutel. Zigarren rauchte er damals schon nicht mehr, und dem Alkohol hatte er schon entsagt, bevor wir uns kennenlernten. Es kursierten allerdings noch die schönsten Anekdoten am Potsdamer Theater. Nach einem zweiten Schlaganfall zog er sich aus dem Theater zurück.
Winkelgrunds Leisheit war keinesfalls Bescheidenheit, sie war sein ironischer Kommentar auf laute Selbstdarstellung. Dies mit aller Vornehmheit. Er war ein Welt-Mensch. Er bereiste die Welt, wann immer es ihm möglich war; dabei wurden die Reisen akribisch geplant, damals noch ganz ohne Google und nur auf Landkarten und mithilfe von Büchern. Und er bereiste die Welt in und mit der Literatur. Dies bis zuletzt. Ich sehe ihn in seinem mecklenburgischen Haus am Fenster sitzen, umgeben von den riesigen Stapeln von gelesenen und noch zu lesenden Büchern.
Winkelgrund, Du warst für mich eine ganz besondere und bereichernde Begegnung.
Ich wünsche Dir einen guten Flug!
Deine Rese
Tatjana Rese war Regieassistentin und Dramaturgin am Deutschen Theater Berlin, Schauspieldirektorin am Staatstheater Braunschweig, am Landestheater Detmold und zwischenzeitlich immer wieder als freie Regisseurin und Autorin tätig. Seit 2018 ist sie Schauspieldirektorin an der Theater und Orchester GmbH Neubrandenburg / Neustrelitz.