Der Potsdamer Theaterpreis 2022 geht an Nadine Nollau und Paul Wilms

Erstmals unter der neuen Intendanz von Bettina Jahnke vergab der Förderkreis am 2. Juli wieder den Potsdamer Theaterpreis. Alle zwei Jahre sollen damit eine Künstlerin und ein Künstler gewürdigt werden, „die in besonderer Weise zur Ausstrahlung des Hans Otto Theaters beigetragen haben“. Die Wahl der siebenköpfigen Jury fiel auf Nadine Nollau und Paul Wilms, beide Mitglieder im aktuellen Ensemble. Nollau verfüge über die „Begabung, aus der Ruhe, ja fast aus dem Hintergrund die Bühne mit ihrer Präsenz zu fluten“, heißt es in der Laudatio. Der Theaterpreis gehe „sehr verdient an die leise, kraftvolle Schauspielerin mit der Stimme aus Samt“, die zuletzt in „Die Stützen der Gesellschaft“ und „Michael Kohlhaas“ zu sehen war. Wilms überzeuge mit seiner „Wandlungsfähigkeit als Darsteller“, so jüngst in „Vor Sonnenaufgang“. Als Eitan in „Vögel“ und als Tempelritter Kurt in „Nathans Kinder“ sei ihm „die grandiose Verkörperung der Zerrissenheit zweier unvergesslicher Figuren“ gelungen. Zudem sei er auch in zwei Sommertheater-Produktionen „unverzichtbarer Teil eines sichtbar spielfreudigen Ensembles“ gewesen. Der Potsdamer Theaterpreis ist mit insgesamt 3.000 Euro dotiert, die sich die beiden Preisträger*innen teilen.

Der zum ersten Mal ausgelobte und von der Investitionsbank des Landes Brandenburg gestiftete Publikumspreis ging an das Musical Cabaret (Regie: Bernd Mottl, musikalische Leitung: Matthias Binner). Einen Sonderpreis erhielten Bettina Jantzen (Chefdramaturgin), Elena Iris Fichtner (Mitarbeiterin der Abteilung Kommunikation und Marketing) sowie Melanie Spähn (Inspizientin), die gemeinsam den neuen Audiowalk Auf den Spuren des Hans Otto Theaters entwickelt haben. Der gut halbstündige akustische Spaziergang rund um das Große Haus ist ab 10. September für alle Interessierten kostenlos zu erleben.
Laudatio auf Nadine Nollau
Laudatio für Nadine Nollau
von Sarah Kugler
Guten Abend,

es ist mir eine große Freude heute verkünden zu dürfen, dass der Theaterpreis 2022 in der Kategorie Schauspielerin an Nadine Nollau geht.

Es ist mir persönlich deshalb so eine große Freude, weil sie unter all den wirklich starken Frauen des Ensembles, die ist, in die ich mich – von einem Theaterfanstandpunkt aus - als allererstes verliebt habe. In dieser Heftigkeit ist mir das das letzte Mal 2006 passiert, damals stahl Philipp Mauritz‘ Andrej mein Theaterherz, im Jahr 2019 musste er für Nadines Nollaus Lady Milford ein ganzes Stück zur Seite rücken. Schon in dieser Rolle zeigte sie: Das Leise ist ihre Kraft. Nadine Nollau kann aus der Stille heraus Emotionen transportieren, die so laut sind, dass sie noch lange nachhallen. Ihr Spiel scheint aus einem inneren Raum zu kommen, in dem sie Gefühle so lange braut, bis sie bereit ist, sie nach außen zu bringen. Nie werde ich vergessen, wie sie in „Kabale und Liebe“ als Lady Milford über die Bühne wirbelte, Kleider regnen ließ und mit ihrer Liebe für Ferdinand die Bühne flutete. Wäre ich er gewesen, ich hätte sie statt Luise geheiratet. In „Die Katze auf dem heißen Blechdach“ durfte sie in derselben Spielzeit gleich nochmal die Verschmähte spielen – übrigens erneut verschmäht von Hannes Schumacher, aber das nur als Bemerkung am Rande - und tat das mit einem stillen Schmerz, der so groß war, dass er heute noch in mir nachhallt. Und das war nur der Beginn.

Ein kurzer Exkurs zu Nadine Nollaus Werdegang: In der der Saison 2018/2019 stieß die 1981 in Berlin geborene und aufgewachsene Schauspielerin ans Hans Otto Theater, Schauspiel studierte sie 2003 bis 2007 an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, anschließend folgten Engagements an mehreren Theatern. Trotz ihrer langjährigen Erfahrung leidet Nadine Nollau, die sich wegen ihrer Vorliebe für klassische Stücke selbst scherzhaft als „Klassiktante“ bezeichnet, wohl immer noch unter extremen Lampenfieber – bei der Ruhe und Stärke, die sie auf der Bühne ausstrahlt, schwer vorstellbar. Vor allem, weil sie nicht nur schauspielerisch, sondern auch musikalisch mit ihrer Präsenz hervorsticht. In einem Gespräch erzählte sie mir von einer ihrer ersten Rollen, die auch noch eine Musicalrolle war: Sie spielte die Anita in „West Side Story“ und musste für deren berühmten Song „America“ die komplizierte Klatsch-Schrittfolgen-Choreografie lernen. Obwohl sie sich selbst nicht als Körperklaus bezeichnen würde, sei erst kurz vor der Premiere der Knoten geplatzt. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber auch das fällt mir schwer zu glauben.

Doch Nadine Nollau ist eben auch eine, die in jede Rolle hundert Prozent legt, die sich ihre Figuren ganz und gar zu Eigen macht – ein Prozess, der eben Zeit braucht. Eine Rolle, die sie sich in dieser Spielzeit ganz zu Eigen gemacht hat und in der sie ebenfalls ihr Gesangstalent unter Beweis stellen konnte, ist mit Sicherheit eine ihrer stärksten bisher: Die Lona Hessel in Sascha Hawemanns fantastischer Inszenierung von Henrik Ibsens „Die Stützen der Gesellschaft“.
Ungelogen: Bereits als ich das Stück zum ersten Mal las und noch nicht offiziell war, wer welche Rolle am Hans Otto Theater spielen würde, habe ich gedacht: Lona Hessel muss von Nadine Nollau gespielt werden. Und WIE sie sie gespielt hat! Ihre Lona Hessel ist eine laute Rockerin, die ihre Wut herausbrüllt und -singt, doch die wirklichen, verletzlichen Gefühle der Figur spielt sie leise – und dabei unglaublich intensiv. Lona Hessel verleiht sie damit eine zärtliche Weichheit, deren Schmerz sich auf das Publikum ebenso überträgt wie ihre laute Wut.

Ähnlich facettenreich zeigte sie sich in "Michael Kohlhaas". Als Knecht Herse erträgt sie ergeben gekrümmt Demütigung und Gewalt für ihren Herren. Schon in seiner Schwäche liegt eine enorme schauspielerische Kraft, und wenn sie später im Stück als Graf von Wrede das Wort übernimmt, wundert man sich, woher Nollau die Ressourcen nimmt, dessen politische Autorität und Haltung genauso überzeugend zu transportieren. Laut werden muss sie auch hier nicht, um zu überzeugen.

Diese Begabung aus der Ruhe, ja fast aus dem Hintergrund die Bühne mit ihrer Präsenz zu fluten, zeichnet Nadine Nollau aus.

Der Theaterpreis geht deswegen sehr verdient an die leise kraftvolle Schauspielerin mit der Stimme aus Samt, die übrigens auch dabei helfen kann, die eigene Ruhe zu finden. Nadine Nollau ist nämlich auch ausgebildete Entspannungstrainerin. Ende 2012 absolvierte sie ein entsprechendes Fernstudium, das sie 2013 in Hamburg abschloss. Im Corona-Lockdown entwickelte sie dann verschiedene Kursformate, die sie auf ihrer Webseite „Breathing Deep“ anbietet. Auf dem gleichnamigen Instagram-Account bietet sie außerdem verschiedene Atemübungen an, die auch mir zu mehr Ruhe im Lockdown verholfen haben.

Und wenn Sie die Gelegenheit haben, sich privat mit Nadine Nollau zu unterhalten, nutzen Sie diese unbedingt. Mal abgesehen davon, dass sie durch und durch sympathisch, bodenständig und nahbar ist, kann man sich mit ihr unter anderem wunderbarbar über Fantasy-Serien unterhalten. Sie kann Ihnen zum Beispiel erklären, warum die letzte Staffel der Kultserie „Game of Thrones“ gar nicht so schlimm war, wie alle sagen. Dafür habe ihr wegen der Absetzung von „Sense8“ – vollkommen zu recht – das Herz geblutet. Falls Sie die Serie nicht gesehen haben, holen Sie das unbedingt nach und lassen Sie sich vorher von Nadine Nollau erklären, warum sich das lohnt.

Und jetzt bitte ich Nadine Nollau nach vorne und nochmal um einen kräftigen Applaus für die Preisträgerin des Potsdamer Theaterpreises 2022.
Laudatio auf Paul Wilms
Laudatio auf Paul Wilms
von Petra Bläss
Der Potsdamer Theaterpreis 2022 für herausragende künstlerische Leistungen eines Schauspielers geht an: PAUL WILMS.


Paul Wilms kam im August 2019 als Absolvent des Schauspielinstituts „Hans Otto“ (!) der Leipziger Hochschule für Musik und Theater in sein Erstengagement ans Hans Otto Theater.

Lieber Paul, schon Deine erste Rolle am Hans Otto Theater, September 2019 war ein Knaller: Ein halbstündiger (!) Monolog in Frank Abts Inszenierung von Jaroslav Rudis‘ „Nationalstraße“, in dem Du genauso wie Deine erfahrenen Kolleg*innen René Schwittay, Katja Zinsmeister und Joachim Berger mit Bravour eines der Gesichter einer wahrlich irritierenden Figur zeigtest. Die Art und Weise, wie Du die Ambivalenz des jugendlichen Vandam dargestellt hast, machte eins sofort deutlich: Da geht einer „in seine Figur hinein“, findet seine eigene Handschrift…

In der Corona-Spielzeit 2020/21 dann gleich zwei Wilmsche Paukenschläge – die grandiose Verkörperung der Zerrissenheit zweier unvergesslicher Figuren: An der Seite gestandener Kolleg*innen wie Rita Feldmeier, Kristin Muthwill und Andreas Spaniol brilliertest Du auf Augenhöhe als Eitan in Bettina Jahnkes Regie-Meisterstück „Vögel“ von Wajdi Mouawad. Wie Du den inneren Konflikt des jungen jüdischen Genetikers Eitan zwischen Leben und Tod einerseits und Familie und arabischer Freundin andererseits dargestellt und dabei die Herausforderung einer besonders bildhaften Sprache gemeistert hast, das bleibt in Erinnerung – genauso wie der letzte Satz im Stück von Dir als Darsteller eines Erben zweier Völker, die einander zerreißen: „Ich werde keinen Trost finden.“

Auch in Jörg Bittrichs beeindruckender Inszenierung von Ulrich Hubs „Nathans Kinder“ schaffst Du durch die Darstellung der inneren Zerrissenheit Deiner Figur Gänsehautmomente - durch Deine Art des Hineinschlüpfens in die Rolle des Tempelritters Kurt, der an seinem Waffendienst zweifelt und zwischen Pflichtgefühl und Aufbegehren schwankt. Wieder schaffst Du es, dass eine entscheidende Textzeile haften bleibt: „Was ist das für ein Gott, der für sich kämpfen lassen muss?“ Und wie schon mit Alina Wolff als Wahida in „Vögel“ „knistert“ es hier mit Charlott Lehmann als Recha – so wie es im Theater zwischen „verliebten“ Bühnen-Paaren eben „knistern“ soll…

Deine Wandlungsfähigkeit als Darsteller hast Du nicht zuletzt in Marlene Anna Schäfers Inszenierung von Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ unterstrichen. Dein Thomas Hoffmann, der seinen politischen Ambitionen alles unterordnet, verkörpert exzellent die Tragödie im Privaten bis zum großen gesellschaftlichen Zusammenhang.
In den beiden letzten Sommertheater-Inszenierungen auf der Seebühne warst Du als Silvio in „Diener zweier Herren“ sowie - davon konnten wir uns heute Abend überzeugen - als Valere in „Der Geizige“ unverzichtbarer Teil eines sichtbar spielfreudigen Ensembles.

Einen guten Schauspieler zeichnet bekanntlich auch die Fähigkeit aus, sich selbst auch mal zurücknehmen und im Ensemblespiel aufgehen zu können: In Fanny Brunners Inszenierung von Peter Richters „89/90“ hast Du es gemeinsam mit Jörg Dathe, Nadine Nollau, Philipp Mauritz, Hannes Schumacher, Andreas Spaniol, Alina Wolf und Katja Zinsmeister wunderbar geschafft, mit höchster Disziplin und großer Kreativität gemeinsam eine Wende-Geschichte zu erzählen – ganz ohne klassische Rollenaufteilung. Eine vergleichbare Herausforderung, noch gespickt mit höchst anspruchsvoller Körperarbeit, hast Du zusammen mit Laura-Maria Hänsel, Janine Kress, Franziska Melzer, Philipp Mauritz und Henning Strübbe in Anna-Elisabeth Fricks Inszenierung von Sibylle Bergs „In den Gärten der Lysistrata Teil2“ gemeistert.
Präzises körperliches Spiel war auch ganz besonders in Bettina Jahnkes wunderbarer „Amadeus“-Inszenierung im Schlosstheater im Neuen Palais gefragt: Mit wenigen Strichen gelingt es Dir, einen klassischen Nebenrollen-Charakter zu zeichnen: Dein Joseph II, Kaiser von Österreich, sticht aus dem hochkarätigen Ensemble der Venticelli hervor – weil Du es fertigbringst, eine exzentrische Figur - aber eben keine Karikatur – darzustellen. Und die bleibt einem im Gedächtnis.
Die verordnete Corona-Zwangs-Theater-Pause hast Du obendrein äußerst kreativ genutzt –mit aufhorchenden online-Auftritten, u.a. zusammen mit dem Theaterkollektiv FRITZAHOI. Dein „Selbstgespräch“ in 32 Sekunden, in dem gleich dreimal Wilms aufeinandertreffen - Achtung „Gruppenbildung“! - ist ein Paradebeispiel Deiner einzigartigen Wandlungsfähigkeit.

Lieber Paul, der Du übrigens gleich nach Deinem Abitur ein Jahr für das Theaterfestival von Avignon gearbeitet hast - und wo, wenn nicht im Juli in Avignon, ist die Welt eine einzige Bühne? - :
„Chapeau“, dass und wie Du das alles „gerockt“ hast!
„Merci“ für leidenschaftliche und unvergessliche Rolleninterpretationen.
„Tous mes compliments!“ zum Potsdamer Theaterpreis.
Rede von Autorin Julia Schoch
KUNST ALS ERREGUNGSRÖHRE?
Ich möchte diese Gelegenheit zum Anlass nehmen, Ihnen einige Gedanken zur Situation einer Schriftstellerin angesichts der gegenwärtigen Welt mitzuteilen.
Wow.
Situation einer Schriftstellerin angesichts der gegenwärtigen Welt – das klingt gut, das klingt nach einem gewichtigen Aufsatz, schon fast nach Auftrag. Es gab Zeiten, da wurde den Schreibenden, ja KünstlerInnen ganz allgemein eingeflüstert, sie würden gebraucht, zum Beispiel zur Erneuerung des Denkens oder gar dem „Aufbau einer neuen Gesellschaft“. Heute scheint es mir weder das Bedürfnis nach der heilsamen Belehrung durch die Kunst zu geben noch „die Gesellschaft“, die ein solches Bedürfnis formulieren könnte oder wollte, und die ohnehin eigentlich nur noch in Anführungszeichen gedacht werden kann.
„Es ist eine Neigung von Intellektuellen, sich gern in die Mitte des Lebensstroms gestellt zu fühlen. Sinngefühl ist die stärkste Droge.“ Die Sätze stammen von Peter Sloterdijk.

Wenn dem so ist, und das glaube ich, versteht man, warum so viele Künstler das Gleis wechseln und zu Wortführern von Debatten oder Unterzeichnern von Petitionen werden. An den Sinn der schöpferischen Kraft, der Kunst ganz allgemein zu glauben, ist derzeit – mal wieder, möchte man fast sagen – nicht leicht. Angesichts der äußeren politischen Umstände, dem Druck der Debatten, der Erregungszustände auf allen Kanälen und der beinahe schon zur Gewohnheit gewordenen Aussichtslosigkeit müssen Kunstschaffende heutzutage vor allem blind sein. Eine Art von absichtlicher Blindheit. Ja, die kräftezehrendste Aufgabe, mit der wir uns herumschlagen müssen, besteht im Ausblenden

will man sich sagen können: Das jetzt alles ist nur eine Phase… Selbst wenn wir wissen,

noch

Was also tun, in dieser Zeit? „ Gegenwart ist, denn einst erträumt?“ Auch wenn es eine passende Beschreibung , die Sätze stammen aus dem Buch von Gunnar Decker „Die späten Jahre der DDR“.

Eines Tages rief jemand bei Peter Handke an und fragte: „Was sagst du zu dem Waffenstillstand in Vietnam?“ Handke antwortete nichts, fluchte nur und redete von etwas anderem. „Was zu sagen war, wäre nicht von mir gewesen, und ich bin mir immer dann genauso gut auch eine Maschine hätte ausspucken können“, heißt es in dem Aufsatz von

Und weiter: „Das ist kein privater Rückzug, sondern eine allgemeine Schwierigkeit von uns Zeitungslesern und Fernsehzuschauern: unsere ‚persönlichen Meinungen‘ sind unzufrieden mit einem selber.“

sie fragte, ob sie mit ihrem Roman „Schicksal“ eine Debatte anstoßen Roman entfachen zu wollen… Literatur sollte nicht zu Debatten führen, sie sollte das

Im Jahr 1977 erschien in „Le Monde“ ein Aufruf, den sämtliche Intellektuelle und Künstler

Als 1940 deutsche Flugzeuge London bombardieren, zieht sich Virginia Woolf aufs Land zurück, kaum 150 Kilometer entfernt. Eigentlich müsste sie gegen die Deutschen und den Krieg anschreiben. Stattdessen schreibt sie ihre Kindheitserinnerungen auf: Es entsteht „Skizze einer Vergangenheit“. Ihr letzter Text.
Der Film „Die Dinge des Lebens“ von Claude Sautet wurde 1970 bei den Filmfestspielen in Cannes ausdrücklich nicht prämiert, weil er keine gesellschaftspolitische Relevanz hätte, wie es damals hieß. Heute ist dieser wunderbare Film einer der bekanntesten und beliebtesten französischen Filme.
Als ein Journalist den Künstler Marcel Duchamp fragte, was er hauptsächlich tue, sagte der: „Ich verbringe meine Zeit ganz leicht, doch ich wüsste nicht, wie ich Ihnen sagen soll, was ich tue… Ich bin ein Atmer.“
1916 reist die neuseeländische Schriftstellerin Katherine Mansfield mitten im ersten Weltkrieg von England an die Mittelmeerküste. Sie sucht nach einem geeigneten Haus in Frankreich, um ihre angeschlagene Gesundheit in einem milderen Klima zu behandeln. Ihr jüngerer Bruder stirbt währenddessen im Norden des Landes in einer der blutigen Schlachten. In keiner der Erzählungen Mansfields ist je vom 1. Weltkrieg die Rede.
Als die Berliner Mauer fällt, hat Annie Ernaux eine leidenschaftliche Affäre zu einem Russen, also eigentlich ja noch Sowjetbürger. In ihrem Roman „Passion Simple“ ist auf jeder Seite von Sex und allem was dazugehört die Rede, nicht aber vom Ende des Kommunismus.

Zuerst dachte ich, ich nenne diese Liste eine Liste der Unterlassungen. Aber da war ich noch in der Logik der medialen Welt, die uns beständig umzingelt. Nein, in Wirklichkeit ist es eine Liste der Erinnerung. Ich erinnere mich an die begriffsauflösende und damit zukunftsmächtige Kraft des poetischen Denkens. Anstelle des Denkens in Begriffen und Slogans und Versatzstücken zum Thema Krieg oder Frieden oder Heimat oder Flucht oder Herkunft oder.

Sie erinnern mich – mal wieder – daran, dass Literatur (oder das Theater) der Ort ist, an dem es keine Abkürzungen, keine Schlagzeilen, noch keine Erleichterungen und auch keine Totalitätsansprüche gibt. Sie ist die Freiheit gegenüber allem schon Fertiggedachten, dem Herkunftsmorast, allem, was uns festlegen will: Klasse, Rasse, Milieu, Gruppenansicht. Sie schafft eine völlig neue Zugehörigkeit, fern von sonstigen sozialen, politischen und geografischen Einteilungen.
Beim Schreiben merke ich jedes Mal, wie ich weniger kleinkariert werde, weniger im Schachteldenken gefangen bin als außerhalb des Schreibens, in der sogenannten wirklichen Welt.
(In diesem Zusammenhang habe ich mich übrigens einem kleinen Gedankenexperiment unterworfen: Was wäre mir (und Ihnen) lieber: ein Impfgegner, der ein manischer Theaterliebhaber ist oder ein Durchgeimpfter, der nie ins Theater (oder eine Buchhandlung) geht? Schon tritt einem der Schweiß auf die Stirn… die Wände verschieben sich leicht.)

Die Kunst kann doch angesichts der Zustände in der Welt nicht schweigen, heißt es. Nein, schweigen nicht, aber sie ist auch kein Durchlauferhitzer, keine Röhre, in der der äußere Erregungsstrom bloß verstärkt wird. Wir sind keine Diskursgefäße.
Individualität, Souveränität drücken sich heutzutage anders aus. Eine souveräne Haltung wäre es, Brecher von Erregungswellen zu sein anstatt auf ihnen zu reiten oder sich von ihnen irgendwohin spülen zu lassen. Eine Pause im Erregungsstrom zu schaffen.
Vielleicht wäre es bereits ein Weg, keine Debatten dorthin zu tragen, wo eigentlich etwas anderes stattfinden soll als Empörung oder Aufklärung. Wir würden uns wundern, wie schwer es ist, aus unserer gewohnten auf- nein abgeklärten Haltung wieder zu einer wundersamen, rätselhaften, intensiven Betrachtung der Welt zu kommen. Zu einer „wahren Empfindung“, der Peter Handke so oft auf der Spur war.
Aufrütteln jedenfalls muss man niemanden mehr. Die Mahnung, die Warnung, der Appell – diese grammatischen Formen haben sich als unwirksam herausgestellt. Der Schreck, den man braucht, um aufgerüttelt zu werden, muss uns nicht in die Glieder fahren, wir werden schon fast mit ihm geboren. Das sehen wir jeden Tag, an dem wir unser Leben eigentlich ändern müssten und es nicht tun.

Optimismus ist bloß ein Mangel an Information, hat Heiner Müller bekanntlich gesagt. Insofern ist klar, warum wir heute keiner frohen Zukunftsvision anhängen können. Wir sind viel zu gut und zu vollständig informiert. Wir haben gelernt, die Geschichte nackt und schonungslos anzusehen. Allerdings scheint sich nichts an fruchtbaren Hinweisen daraus ziehen zu lassen. Die Informationen überwältigen und lähmen uns oft genug. Sie machen uns nicht glücklicher, nicht handlungsfähiger. Wir sind ratloser, gewissensverbissener geworden. Wir fühlen uns einsam, wie allein gelassen im kalten, grellen Licht des totalen Wissens.

Das ist das heutige Drama. Das Drama des exzessiv informierten Menschen des 21. Jahrhunderts. Er weiß alles und ist umso mehr im Stupor. In diesem Widerspruch leben wir.

Vor 250 Jahren schrieb Voltaire seinen Roman „Candide oder der Optimismus“. Candide sah sich derselben Frage ausgesetzt wie heute ich. Was soll man tun angesichts unfassbarer Gewalt, von ewigen Kriegen und Naturkatastrophen? Voltaire lässt Candide und dessen Gefährten am Ende einer langen Reise durch die Welt eine Art Landwirtschaftskommune gründen. Dort gilt der Grundsatz: Ob die Welt nun gut oder schlecht ist, der Garten muss trotzdem bestellt werden.

Ich lese das so: Als eine Aufforderung, zur physischen Präsenz zurückzukehren, etwas wirklich wahrzunehmen, mit den eigenen Sinnen, anstatt bloß aufzuschnappen oder Gehörtes weiterzuerzählen. Die deutliche, tastbare, in der Regel mit einem Du und Wir verbundene Realität zu erleben. Manchmal reicht es ja schon, kleine Tiere zu versorgen, Kinder oder andere Wesen zu streicheln, nachts im Park zu tanzen.

Aber all das muss ich Ihnen vielleicht gar nicht erzählen. Diese Selbstverständlichkeiten hier, an diesem Ort, auszusprechen, lässt mich sofort an Max Frisch denken, der in „Montauk“ verzweifelt fragt: Wem erzähle ich das alles? Und wozu?
Intendantin Bettina Jahnke, Foto: Thomas M. Jauk
Katja Dietrich-Kröck (Vorsitzende des Förderkreis des Hans Otto Theaters), Foto: Thomas M. Jauk
Oberbürgermeister Mike Schubert, Foto: Thomas M. Jauk
Autorin Julia Schoch, Foto: Thomas M. Jauk
Der Sonderpreis ging an Bettina Jantzen (Chefdramaturgin), Elena Iris Fichtner (Mitarbeiterin der Abteilung Kommunikation und Marketing) sowie Melanie Spähn (Inspizientin) für die Entwicklung des Audiowalks Auf den Spuren des Hans Otto Theaters (Premiere 10. September)., Foto: Thomas M. Jauk
Nadine Nollau erhält den Potsdamer Theaterpreis in der Kategorie Schauspielerin., Foto: Thomas M. Jauk
Paul Wilms erhält den Potsdamer Theaterpreis in der Kategorie Schauspieler., Foto: Thomas M. Jauk
Die Investitionsbank Berlin (auf dem Foto Bereichsleiter Ronny Schaa) stiftete in diesem Jahr den Publikumspreis., Foto: Thomas M. Jauk
Das Ensemble von Cabaret nimmt stellvertretend den Publikumspreis für das gesamte künstlerische Team entgegen., Foto: Thomas M. Jauk
Foto: Thomas M. Jauk
Foto: Thomas M. Jauk