Die gebrechliche Einrichtung der Welt – Gedanken zu Kleists „Michael Kohlhaas“
Es gibt sie nicht erst seit heute: Leute voller Hass gegen den Staat, gegen das System. Leute, die sich verbarrikadieren in sich selbst bzw. in ihren Echokammern, deren Wut ins Maßlose steigt, die sich manisch verbeißen in eigene Welterklärungsmuster, die in ihrem Verhalten zu immer extremeren Mitteln greifen. Kleists Michael Kohlhaas könnte als einer ihrer frühen Verwandten gelten. Denn auch Kohlhaas fühlt sich (wie viele Wutbürger) zutiefst ungerecht behandelt und unverstanden. Zunehmend verengt sich sein Blick, eskaliert seine Gewaltbereitschaft. So protokolliert der Text die Mechanismen einer schrittweisen Radikalisierung, einer blindwütigen Verhärtung gegen die Welt.
Doch Kleists Erzählung ist weitaus mehr als nur die Studie eines pathologischen Falles oder das Psychogramm toxischer Männlichkeit. Kleist beschreibt seinen tragischen Protagonisten in einer paradoxen Formulierung als „rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“. Der Text fällt kein eindeutiges Urteil über Kohlhaas, sondern arbeitet auf irritierende Weise mit wechselnden Perspektiven. So ist seine blutige Rebellion auch verstehbar als „Werk Gottes“, um „die Arglist, in welcher die ganze Welt versunken, zu bestrafen“ und für eine „bessere Ordnung der Dinge“ zu streiten. Immerhin: Der Pferdehändler trägt den gleichen Namen wie der Erzengel Michael, der in christlicher Tradition gegen Teufel und Drachen kämpft. Das geschichtliche Vorbild, an dem Kleist seine Novelle orientiert, hieß dagegen Hans Kohlhasen. Wobei: Vielleicht möchte Kleist mit der Namensänderung gegenüber der Historie auch auf den deutschen Michel anspielen? Eine andere mögliche Sichtweise auf die Figur des Kohlhaas eröffnet die rechtsphilosophische Debatte, die im 17. und 18. Jahrhundert intensiv unter Aufklärern geführt wurde und die für Kleist eine wichtige Rolle gespielt hat: Gibt es ein Recht auf Widerstand gegen die Staatsgewalt, wenn der Staat den Gesellschaftsvertrag von seiner Seite aus bricht? Wo beginnt und wo endet dieses Recht?
Aus dem Zauberkreis der offenen Fragen kommt man im „Kohlhaas“ nicht heraus. Immer wieder begegnen einem paradoxe Formulierungen und widersprüchliche Einschätzungen der Lage. Das Geschehen entfaltet sich in einem polar aufgeladenen Spannungsfeld und folgt einer rätselhaften eigenen Logik, bei der nicht zuletzt Zufälle und Launen die Handlung vorantreiben. Auch die Sphäre des Unwahrscheinlichen und Märchenhaften beeinflusst die Kette der Ereignisse. Die Figuren agieren oftmals nicht als autonome, rational entscheidende Subjekte, sondern wirken wie getrieben von inneren Dämonen, gesteuert von irrationalen Kräften.
Dabei erscheint die Welt hier keineswegs nur alptraumhaft oder schrecklich; vielmehr gibt es im Räderwerk des Geschehens auch unvermutet Sprünge und traumartige Interventionen, die Rettung, Glückseligkeit und Genugtuung bringen. Der poetische Kosmos, den Kleist entwirft, ist also vor allem undurchschaubar, unberechenbar, rätselhaft. Wer sich hinein begibt in diesen Kosmos, wird leicht erfasst von einer Art kafkaeskem Drehschwindel, gerät in einen seltsamen Trip. Denn das Dasein vollzieht sich hier immer auf schwankendem, unsicherem Grund, auf einer dünnen Kruste über gefährlicher vulkanischer Glut, inmitten von unvereinbaren Gegensätzen und Widersprüchen. Alles in diesem Kosmos kann plötzlich ins Rutschen kommen, aufbrechen, sich in eine unvorhergesehene Richtung entwickeln.
So stürzt der Normalbürger Kohlhaas fast unvermittelt aus allen Zusammenhängen seines Lebens heraus und gerät in einen Strudel, der ihn in den Abgrund zieht. Aber wie durch einen Zauber können sich in diesem Kosmos plötzlich auch Augenblicke ergeben, in denen die Figuren unbeschwert mit sich selbst im Einklang sind und alles eine gute Wendung zu nehmen scheint. Eine Tür für Kohlhaas zu solchen Momenten von Erleichterung und Versöhnung könnte in Lisbeths letzten Worten liegen, die sie wie ein Vermächtnis an ihren Mann richtet: „Vergib deinen Feinden, tue wohl auch denen, die dich hassen.“ Michael Kohlhaas aber vermag es nicht, durch diese Tür zu gehen.
Christopher Hanf
Doch Kleists Erzählung ist weitaus mehr als nur die Studie eines pathologischen Falles oder das Psychogramm toxischer Männlichkeit. Kleist beschreibt seinen tragischen Protagonisten in einer paradoxen Formulierung als „rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“. Der Text fällt kein eindeutiges Urteil über Kohlhaas, sondern arbeitet auf irritierende Weise mit wechselnden Perspektiven. So ist seine blutige Rebellion auch verstehbar als „Werk Gottes“, um „die Arglist, in welcher die ganze Welt versunken, zu bestrafen“ und für eine „bessere Ordnung der Dinge“ zu streiten. Immerhin: Der Pferdehändler trägt den gleichen Namen wie der Erzengel Michael, der in christlicher Tradition gegen Teufel und Drachen kämpft. Das geschichtliche Vorbild, an dem Kleist seine Novelle orientiert, hieß dagegen Hans Kohlhasen. Wobei: Vielleicht möchte Kleist mit der Namensänderung gegenüber der Historie auch auf den deutschen Michel anspielen? Eine andere mögliche Sichtweise auf die Figur des Kohlhaas eröffnet die rechtsphilosophische Debatte, die im 17. und 18. Jahrhundert intensiv unter Aufklärern geführt wurde und die für Kleist eine wichtige Rolle gespielt hat: Gibt es ein Recht auf Widerstand gegen die Staatsgewalt, wenn der Staat den Gesellschaftsvertrag von seiner Seite aus bricht? Wo beginnt und wo endet dieses Recht?
Aus dem Zauberkreis der offenen Fragen kommt man im „Kohlhaas“ nicht heraus. Immer wieder begegnen einem paradoxe Formulierungen und widersprüchliche Einschätzungen der Lage. Das Geschehen entfaltet sich in einem polar aufgeladenen Spannungsfeld und folgt einer rätselhaften eigenen Logik, bei der nicht zuletzt Zufälle und Launen die Handlung vorantreiben. Auch die Sphäre des Unwahrscheinlichen und Märchenhaften beeinflusst die Kette der Ereignisse. Die Figuren agieren oftmals nicht als autonome, rational entscheidende Subjekte, sondern wirken wie getrieben von inneren Dämonen, gesteuert von irrationalen Kräften.
Dabei erscheint die Welt hier keineswegs nur alptraumhaft oder schrecklich; vielmehr gibt es im Räderwerk des Geschehens auch unvermutet Sprünge und traumartige Interventionen, die Rettung, Glückseligkeit und Genugtuung bringen. Der poetische Kosmos, den Kleist entwirft, ist also vor allem undurchschaubar, unberechenbar, rätselhaft. Wer sich hinein begibt in diesen Kosmos, wird leicht erfasst von einer Art kafkaeskem Drehschwindel, gerät in einen seltsamen Trip. Denn das Dasein vollzieht sich hier immer auf schwankendem, unsicherem Grund, auf einer dünnen Kruste über gefährlicher vulkanischer Glut, inmitten von unvereinbaren Gegensätzen und Widersprüchen. Alles in diesem Kosmos kann plötzlich ins Rutschen kommen, aufbrechen, sich in eine unvorhergesehene Richtung entwickeln.
So stürzt der Normalbürger Kohlhaas fast unvermittelt aus allen Zusammenhängen seines Lebens heraus und gerät in einen Strudel, der ihn in den Abgrund zieht. Aber wie durch einen Zauber können sich in diesem Kosmos plötzlich auch Augenblicke ergeben, in denen die Figuren unbeschwert mit sich selbst im Einklang sind und alles eine gute Wendung zu nehmen scheint. Eine Tür für Kohlhaas zu solchen Momenten von Erleichterung und Versöhnung könnte in Lisbeths letzten Worten liegen, die sie wie ein Vermächtnis an ihren Mann richtet: „Vergib deinen Feinden, tue wohl auch denen, die dich hassen.“ Michael Kohlhaas aber vermag es nicht, durch diese Tür zu gehen.
Christopher Hanf
Kleist, Potsdam und Preußen
Das Schicksal Heinrich von Kleists – fraglos einer der großen Autoren der Weltliteratur – ist eng mit der Stadt Potsdam verbunden, dem geistigen und politischen Zentrum Preußens. Seine Familie, ein altes Adelsgeschlecht, spielte in der preußischen Militärgeschichte eine bedeutende Rolle. Geboren 1777 in Frankfurt/Oder, wurde Kleist bereits im Alter von 14 Jahren in die Potsdamer Eliteeinheit Regiment Garde aufgenommen. Im Frühjahr 1799 trat er aus der Armee wieder aus – ein im Blick auf die Familientradition unerhörter Schritt. Es war riskant und ungewöhnlich, die gesicherte berufliche Existenz mit glänzenden Karriereaussichten aufs Spiel zu setzen, doch Kleist konnte nicht anders: der Soldatenstand erschien ihm als „Monument der Tyrannei“; er empfand bei dieser Lebensweise „etwas Ungleichartiges mit meinem ganzen Wesen“, wie es in einem seiner Briefe heißt.
Hier zeigt sich der Riss, der durch Kleists Dasein verläuft: Denn einerseits rang er beständig darum, sein Leben nach den Idealen Preußens auszurichten und Prinzipien wie Pflicht, Vernunft, Härte, Disziplin, Leistung, Ehrgeiz, Ordnung etc. zu entsprechen, um auf diese Weise die Anerkennung seiner Familie und der in Potsdam residierenden Elite zu erlangen. So unternahm er auch immer wieder Versuche, eine Laufbahn als preußischer Beamter anzutreten. Doch andererseits verspürte Kleist gleichzeitig eine solch starke innere Abwehr gegen diese Prinzipien und Lebensformen, dass er jedes Mal erneut die Flucht davor ergriff. Folglich war sein Leben von großer Rastlosigkeit geprägt. Zahlreiche Auf- und Abbrüche markieren den Weg seiner Biographie. Häufig begab er sich auf Reisen quer durch Europa und kehrte doch wie ein Süchtiger stets nach Preußen zurück, dem er in einer seltsamen Hassliebe verbunden blieb.
Im Jahre 1810 traf Kleist wieder einmal mit gescheiterten Projekten im Gepäck und finanziell abgebrannt in Berlin ein. Von den Spitzen des preußischen Staates und seiner Familie wurde er als Versager abgestempelt. Auch als Autor blieb ihm die Anerkennung verwehrt, die er so sehr ersehnte. So wählte er im November 1811 gemeinsam mit Henriette Vogel den Freitod und erschoss sich am Kleinen Wannsee bei Potsdam.
Der Schriftsteller Stefan Zweig nennt Kleist einen „Desperado des Lebens“ und spricht davon, dass „die Welt, das ganze Leben bei Kleist in einen Spannungszustand verwandelt“ sei. Von diesem Spannungszustand sind auch seine Texte geprägt, nicht zuletzt Michael Kohlhaas, dessen Heimatort Kohlhaasenbrück im Übrigen am Rande Potsdams liegt. Kleists literarischer Kosmos bezieht seine außergewöhnliche Kraft genau aus den Gegensätzen, die das Leben ihres Autors zu zerreißen drohen. Die besondere Qualität seiner Texte liegt im Zugleich des Widersprüchlichen: Gesetz und Exzess, Tugend und Maßlosigkeit, Rechtschaffenheit und Grausamkeit, Schmerz und Lust, Schönes und Schreckliches, Schmutz und Glanz, Krieg und Liebe – das alles ist hier untrennbar miteinander verbunden. Die Zerrissenheit Kleists vermittelt ein Bild von der höchst angefochtenen Stellung der Menschen in einer als unübersichtlich und widersprüchlich erfahrenen Wirklichkeit – ein Bild, mit dem wir uns heute vielleicht mehr denn je zu identifizieren vermögen.
Christopher Hanf
Hier zeigt sich der Riss, der durch Kleists Dasein verläuft: Denn einerseits rang er beständig darum, sein Leben nach den Idealen Preußens auszurichten und Prinzipien wie Pflicht, Vernunft, Härte, Disziplin, Leistung, Ehrgeiz, Ordnung etc. zu entsprechen, um auf diese Weise die Anerkennung seiner Familie und der in Potsdam residierenden Elite zu erlangen. So unternahm er auch immer wieder Versuche, eine Laufbahn als preußischer Beamter anzutreten. Doch andererseits verspürte Kleist gleichzeitig eine solch starke innere Abwehr gegen diese Prinzipien und Lebensformen, dass er jedes Mal erneut die Flucht davor ergriff. Folglich war sein Leben von großer Rastlosigkeit geprägt. Zahlreiche Auf- und Abbrüche markieren den Weg seiner Biographie. Häufig begab er sich auf Reisen quer durch Europa und kehrte doch wie ein Süchtiger stets nach Preußen zurück, dem er in einer seltsamen Hassliebe verbunden blieb.
Im Jahre 1810 traf Kleist wieder einmal mit gescheiterten Projekten im Gepäck und finanziell abgebrannt in Berlin ein. Von den Spitzen des preußischen Staates und seiner Familie wurde er als Versager abgestempelt. Auch als Autor blieb ihm die Anerkennung verwehrt, die er so sehr ersehnte. So wählte er im November 1811 gemeinsam mit Henriette Vogel den Freitod und erschoss sich am Kleinen Wannsee bei Potsdam.
Der Schriftsteller Stefan Zweig nennt Kleist einen „Desperado des Lebens“ und spricht davon, dass „die Welt, das ganze Leben bei Kleist in einen Spannungszustand verwandelt“ sei. Von diesem Spannungszustand sind auch seine Texte geprägt, nicht zuletzt Michael Kohlhaas, dessen Heimatort Kohlhaasenbrück im Übrigen am Rande Potsdams liegt. Kleists literarischer Kosmos bezieht seine außergewöhnliche Kraft genau aus den Gegensätzen, die das Leben ihres Autors zu zerreißen drohen. Die besondere Qualität seiner Texte liegt im Zugleich des Widersprüchlichen: Gesetz und Exzess, Tugend und Maßlosigkeit, Rechtschaffenheit und Grausamkeit, Schmerz und Lust, Schönes und Schreckliches, Schmutz und Glanz, Krieg und Liebe – das alles ist hier untrennbar miteinander verbunden. Die Zerrissenheit Kleists vermittelt ein Bild von der höchst angefochtenen Stellung der Menschen in einer als unübersichtlich und widersprüchlich erfahrenen Wirklichkeit – ein Bild, mit dem wir uns heute vielleicht mehr denn je zu identifizieren vermögen.
Christopher Hanf
Aus Kleists Briefen
An Wilhelmine von Zenge, Anfang 1800
(…) Und nun noch eine Hauptsache, Wilhelmine. Sie wissen, dass ich bereits entschlossen bin, mich für ein Amt zu bilden; aber noch bin ich nicht entschieden, für welches Amt ich mich bilden soll. Ich wende jede müßige Stunde zum Behufe der Überlegung über diesen Gegenstand an. Ich wäge die Wünsche meines Herzens gegen die Forderungen meiner Vernunft ab; aber die Schalen der Waage schwanken unter den unbestimmten Gewichten. Soll ich die Rechte studieren? – Ach, Wilhelmine, ich hörte letzthin in dem Naturrechte die Frage aufwerfen, ob die Verträge der Liebenden gelten könnten, weil sie in der Leidenschaft geschehen – und was soll ich von einer Wissenschaft halten, die sich den Kopf darüber zerbricht ob es ein Eigentum in der Welt gibt, und die mir daher nur zweifeln lehren würde, ob ich Sie auch wohl jemals mit Recht die Meine nennen darf; Nein, nein, Wilhelmine, nicht die Rechte will ich studieren, nicht die schwankenden ungewissen, zweideutigen Rechte der Vernunft will ich studieren, an die Rechte meines Herzens will ich mich halten, und ausüben will ich sie, was auch alle Systeme der Philosophen dagegen einwenden mögen. – Oder soll ich mich für das diplomatische Fach bestimmen? – Ach, Wilhelmine, ich erkenne nur ein höchstes Gesetz an, die Rechtschaffenheit, und die Politik kennt nur ihren Vorteil. (…)
An Wilhelmine von Zenge, November 1800
(…) Ich will kein Amt nehmen. Warum will ich es nicht? – O wie viele Antworten liegen mir auf der Seele! Ich kann nicht eingreifen in ein Interesse, das ich mit meiner Vernunft nicht prüfen darf. Ich soll tun was der Staat von mir verlangt, und doch soll ich nicht untersuchen, ob das, was er von mir verlangt, gut ist. Zu seinen unbekannten Zwecken soll ich ein bloßes Werkzeug sein – ich kann es nicht. Ein eigner Zweck steht mir vor Augen, nach ihm würde ich handeln müssen, und wenn der Staat es anders will, dem Staate nicht gehorchen dürfen. Meinen Stolz würde ich darin suchen, die Aussprüche meiner Vernunft geltend zu machen gegen den Willen meiner Obern – nein, Wilhelmine, es geht nicht, ich passe mich für kein Amt. Ich bin auch wirklich zu ungeschickt, um es zu führen. Ordnung, Genauigkeit, Geduld, Unverdrossenheit, das sind Eigenschaften die bei einem Amte unentbehrlich sind, und die mir doch ganz fehlen. Ich arbeite nur für meine Bildung gern und da bin ich unüberwindlich geduldig und unverdrossen. (…)
An Ulrike von Kleist, Februar 1801
(…) Ach, liebe Ulrike, ich passe mich nicht unter die Menschen, es ist eine traurige Wahrheit, aber eine Wahrheit; und wenn ich den Grund ohne Umschweif angeben soll, so ist es dieser: sie gefallen mir nicht. Ich weiß wohl, dass es bei dem Menschen, wie bei dem Spiegel, eigentlich auf die eigne Beschaffenheit beider ankommt, wie die äußern Gegenstände darauf einwirken sollen; und mancher würde aufhören über die Verderbtheit der Sitten zu schelten, wenn ihm der Gedanke einfiele, ob nicht vielleicht bloß der Spiegel, in welchen das Bild der Welt fällt, schief und schmutzig ist. Indessen wenn ich mich in Gesellschaften nicht wohl befinde, so geschieht dies weniger, weil andere, als vielmehr weil ich mich selbst nicht zeige, wie ich es wünsche. Die Notwendigkeit, eine Rolle zu spielen, und ein innerer Widerwillen dagegen machen mir jede Gesellschaft lästig, und froh kann ich nur in meiner eignen Gesellschaft sein, weil ich da ganz wahr sein darf. Das darf man unter Menschen nicht sein, und keiner ist es – Ach, es gibt eine traurige Klarheit, mit welcher die Natur viele Menschen, die an dem Dinge nur die Oberfläche sehen, zu ihrem Glücke verschont hat. Sie nennt mir zu jeder Miene den Gedanken, zu jedem Worte den Sinn, zu jeder Handlung den Grund – sie zeigt mir alles, was mich umgibt, und mich selbst in seiner ganzen armseligen Blöße, und dem Herzen ekelt zuletzt vor dieser Nacktheit – – (…)
An Wilhelmine von Zenge, März 1801
(…) Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr – und alles Bestreben, ein Eigentum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich – Ach, Wilhelmine, wenn die Spitze dieses Gedankens Dein Herz nicht trifft, so lächle nicht über einen andern, der sich tief in seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt. Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe nun keines mehr – (…)
An Wilhelmine von Zenge, Juli 1801
(…) Das Leben ist das einzige Eigentum, das nur dann etwas wert ist, wenn wir es nicht achten. Dieses rätselhafte Ding, das wir besitzen, wir wissen nicht von wem, das uns fortführt, wir wissen nicht wohin, das unser Eigentum ist, wir wissen nicht, ob wir darüber schalten dürfen, eine Habe, die nichts wert ist, wenn sie uns etwas wert ist, ein Ding, wie ein Widerspruch, flach und tief, öde und reich, würdig und verächtlich, vieldeutig und unergründlich, ein Ding, das jeder wegwerfen möchte, wie ein unverständliches Buch, sind wir nicht durch ein Naturgesetz gezwungen es zu lieben? (…)
An Caroline von Schlieben, Juli 1801
(…) Ach, dunkel, dunkel ist das alles. – Ich hoffe auf etwas Gutes, doch bin ich auf das Schlimmste gefasst. Freude gibt es ja doch auf jedem Lebenswege, selbst das Bitterste ist doch auf kurze Augenblicke süß. Wenn nur der Grund recht dunkel ist, so sind auch matte Farben hell. Der helle Sonnenschein des Glücks, der uns verblendet, ist auch nicht einmal für unser schwaches Auge gemacht. Am Tage sehn wir wohl die schöne Erde, doch wenn es Nacht ist, sehn wir in die Sterne – – (…)
An Wilhelmine von Zenge, August 1801
(…) Zuweilen, wenn ich die Bibliotheken ansehe, wo in prächtigen Sälen und in prächtigen Bänden die Werke Rousseaus, Helvetius', Voltaires stehen, so denke ich, was haben sie genutzt? Hat ein einziges seinen Zweck erreicht? Haben sie das Rad aufhalten können, das unaufhaltsam stürzend seinem Abgrund entgegeneilt? O hätten alle, die gute Werke geschrieben haben, die Hälfte von diesem Guten getan, es stünde besser um die Welt. (…) Ein Staat kennt keinen andern Vorteil, als den er nach Prozenten berechnen kann. Er will die Wahrheit anwenden – Und worauf? Auf Künste und Gewerbe. Er will das Bequeme noch bequemer machen, das Sinnliche noch versinnlichen, den raffiniertesten Luxus noch raffinieren. – Und wenn am Ende auch das üppigste und verwöhnteste Bedürfnis keinen Wunsch mehr ersinnen kann, was ist dann –? O wie unbegreiflich ist der Wille, der über die Menschengattung waltet! (…) Auch ist immer Licht, wo Schatten ist, und umgekehrt. Wenn die Unwissenheit unsre Einfalt, unsre Unschuld und alle Genüsse der friedlichen Natur sichert, so öffnet sie dagegen allen Greueln des Aberglaubens die Tore – Wenn dagegen die Wissenschaften uns in das Labyrinth des Luxus führen, so schützen sie uns vor allen Greueln des Aberglaubens. Jede reicht uns Tugenden und Laster, und wir mögen am Ende aufgeklärt oder unwissend sein, so haben wir dabei so viel verloren, als gewonnen. – Und so mögen wir denn vielleicht am Ende tun, was wir wollen, wir tun recht – Ja, wahrlich, wenn man überlegt, daß wir ein Leben bedürfen, um zu lernen, wie wir leben müssten, dass wir selbst im Tode noch nicht ahnden, was der Himmel mit uns will, wenn niemand den Zweck seines Daseins und seine Bestimmung kennt, wenn die menschliche Vernunft nicht hinreicht, sich und die Seele und das Leben und die Dinge um sich zu begreifen, wenn man seit Jahrtausenden noch zweifelt, ob es ein Recht gibt? – kann Gott von solchen Wesen Verantwortlichkeit fordern? Man sage nicht, dass eine Stimme im Innern uns heimlich und deutlich anvertraue, was recht sei. (…) Was heißt das auch, etwas Böses tun, der Wirkung nach? Was ist böse? Absolut böse? Tausendfältig verknüpft und verschlungen sind die Dinge der Welt, jede Handlung ist die Mutter von Millionen andern, und oft die schlechteste erzeugt die besten – Sage mir, wer auf dieser Erde hat schon etwas Böses getan? Etwas, das böse wäre in alle Ewigkeit fort –? Und was uns auch die Geschichte von Nero, und Attila, und Cartouche, von den Hunnen, und den Kreuzzügen, und der spanischen Inquisition erzählt, so rollt doch dieser Planet immer noch freundlich durch den Himmelsraum, und die Frühlinge wiederholen sich, und die Menschen leben, genießen, und sterben nach wie vor.
An Marie von Kleist, November 1811
(…) Es ist mir ganz unmöglich länger zu leben; meine Seele ist so wund, dass mir, ich möchte fast sagen, wenn ich die Nase aus dem Fenster stecke, das Tageslicht wehe tut, das mir darauf schimmert. Das wird mancher für eine Krankheit und überspannt halten; nicht aber du, die fähig ist die Welt auch aus andern Standpunkten zu betrachten als aus dem Deinigen. Dadurch, dass ich mit Schönheit und Sitte, seit meiner frühsten Jugend an, in meinen Gedanken und Schreibereien, unaufhörlichen Umgang gepflogen, bin ich so empfindlich geworden, dass mich die kleinsten Angriffe, denen das Gefühl jedes Menschen nach dem Lauf der Dinge hienieden ausgesetzt ist, doppelt und dreifach schmerzen. So versichre ich Dich, wollte ich doch lieber zehnmal den Tod erleiden, als noch einmal wieder erleben, was ich das letzte mal in Frankfurt an der Mittagstafel zwischen meinen beiden Schwestern empfunden habe. Ich habe meine Geschwister immer, zum Teil wegen ihrer gutgearteten Persönlichkeiten, zum Teil wegen der Freundschaft, die sie für mich hatten, von Herzen lieb gehabt; so wenig ich davon gesprochen habe, so gewiss ist es, dass es einer meiner herzlichsten und innigsten Wünsche war, ihnen einmal, durch meine Arbeiten und Werke, recht viel Freude und Ehre zu machen. Nun ist es zwar wahr, es war in den letzten Zeiten, von mancher Seite her, gefährlich, sich mit mir einzulassen, und ich klage sie desto weniger an, sich von mir zurückgezogen zu haben, je mehr ich die Not des Ganzen bedenke, die zum Teil auch auf ihren Schultern ruhte; aber der Gedanke, das Verdienst, das ich doch zuletzt, es sei nun groß oder klein, habe, gar nicht anerkannt zu sehn, und mich von ihnen als ein ganz nichtsnutziges Glied der menschlichen Gesellschaft, das keiner Teilnahme mehr wert sei, betrachtet zu sehn, ist mir überaus schmerzhaft, wahrhaftig, es raubt mir nicht nur die Freuden, die ich von der Zukunft hoffte, sondern es vergiftet mir auch die Vergangenheit. (…)
An Marie von Kleist, November 1811
(…) Ach, ich versichre Dich, ich bin ganz selig. Morgens und abends knie ich nieder, was ich nie gekonnt habe, und bete zu Gott; ich kann ihm mein Leben, das allerqualvollste, das je ein Mensch geführt hat, jetzo danken, weil er es mir durch den herrlichsten und wollüstigsten aller Tode vergütigt. (…)
(…) Und nun noch eine Hauptsache, Wilhelmine. Sie wissen, dass ich bereits entschlossen bin, mich für ein Amt zu bilden; aber noch bin ich nicht entschieden, für welches Amt ich mich bilden soll. Ich wende jede müßige Stunde zum Behufe der Überlegung über diesen Gegenstand an. Ich wäge die Wünsche meines Herzens gegen die Forderungen meiner Vernunft ab; aber die Schalen der Waage schwanken unter den unbestimmten Gewichten. Soll ich die Rechte studieren? – Ach, Wilhelmine, ich hörte letzthin in dem Naturrechte die Frage aufwerfen, ob die Verträge der Liebenden gelten könnten, weil sie in der Leidenschaft geschehen – und was soll ich von einer Wissenschaft halten, die sich den Kopf darüber zerbricht ob es ein Eigentum in der Welt gibt, und die mir daher nur zweifeln lehren würde, ob ich Sie auch wohl jemals mit Recht die Meine nennen darf; Nein, nein, Wilhelmine, nicht die Rechte will ich studieren, nicht die schwankenden ungewissen, zweideutigen Rechte der Vernunft will ich studieren, an die Rechte meines Herzens will ich mich halten, und ausüben will ich sie, was auch alle Systeme der Philosophen dagegen einwenden mögen. – Oder soll ich mich für das diplomatische Fach bestimmen? – Ach, Wilhelmine, ich erkenne nur ein höchstes Gesetz an, die Rechtschaffenheit, und die Politik kennt nur ihren Vorteil. (…)
An Wilhelmine von Zenge, November 1800
(…) Ich will kein Amt nehmen. Warum will ich es nicht? – O wie viele Antworten liegen mir auf der Seele! Ich kann nicht eingreifen in ein Interesse, das ich mit meiner Vernunft nicht prüfen darf. Ich soll tun was der Staat von mir verlangt, und doch soll ich nicht untersuchen, ob das, was er von mir verlangt, gut ist. Zu seinen unbekannten Zwecken soll ich ein bloßes Werkzeug sein – ich kann es nicht. Ein eigner Zweck steht mir vor Augen, nach ihm würde ich handeln müssen, und wenn der Staat es anders will, dem Staate nicht gehorchen dürfen. Meinen Stolz würde ich darin suchen, die Aussprüche meiner Vernunft geltend zu machen gegen den Willen meiner Obern – nein, Wilhelmine, es geht nicht, ich passe mich für kein Amt. Ich bin auch wirklich zu ungeschickt, um es zu führen. Ordnung, Genauigkeit, Geduld, Unverdrossenheit, das sind Eigenschaften die bei einem Amte unentbehrlich sind, und die mir doch ganz fehlen. Ich arbeite nur für meine Bildung gern und da bin ich unüberwindlich geduldig und unverdrossen. (…)
An Ulrike von Kleist, Februar 1801
(…) Ach, liebe Ulrike, ich passe mich nicht unter die Menschen, es ist eine traurige Wahrheit, aber eine Wahrheit; und wenn ich den Grund ohne Umschweif angeben soll, so ist es dieser: sie gefallen mir nicht. Ich weiß wohl, dass es bei dem Menschen, wie bei dem Spiegel, eigentlich auf die eigne Beschaffenheit beider ankommt, wie die äußern Gegenstände darauf einwirken sollen; und mancher würde aufhören über die Verderbtheit der Sitten zu schelten, wenn ihm der Gedanke einfiele, ob nicht vielleicht bloß der Spiegel, in welchen das Bild der Welt fällt, schief und schmutzig ist. Indessen wenn ich mich in Gesellschaften nicht wohl befinde, so geschieht dies weniger, weil andere, als vielmehr weil ich mich selbst nicht zeige, wie ich es wünsche. Die Notwendigkeit, eine Rolle zu spielen, und ein innerer Widerwillen dagegen machen mir jede Gesellschaft lästig, und froh kann ich nur in meiner eignen Gesellschaft sein, weil ich da ganz wahr sein darf. Das darf man unter Menschen nicht sein, und keiner ist es – Ach, es gibt eine traurige Klarheit, mit welcher die Natur viele Menschen, die an dem Dinge nur die Oberfläche sehen, zu ihrem Glücke verschont hat. Sie nennt mir zu jeder Miene den Gedanken, zu jedem Worte den Sinn, zu jeder Handlung den Grund – sie zeigt mir alles, was mich umgibt, und mich selbst in seiner ganzen armseligen Blöße, und dem Herzen ekelt zuletzt vor dieser Nacktheit – – (…)
An Wilhelmine von Zenge, März 1801
(…) Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr – und alles Bestreben, ein Eigentum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich – Ach, Wilhelmine, wenn die Spitze dieses Gedankens Dein Herz nicht trifft, so lächle nicht über einen andern, der sich tief in seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt. Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe nun keines mehr – (…)
An Wilhelmine von Zenge, Juli 1801
(…) Das Leben ist das einzige Eigentum, das nur dann etwas wert ist, wenn wir es nicht achten. Dieses rätselhafte Ding, das wir besitzen, wir wissen nicht von wem, das uns fortführt, wir wissen nicht wohin, das unser Eigentum ist, wir wissen nicht, ob wir darüber schalten dürfen, eine Habe, die nichts wert ist, wenn sie uns etwas wert ist, ein Ding, wie ein Widerspruch, flach und tief, öde und reich, würdig und verächtlich, vieldeutig und unergründlich, ein Ding, das jeder wegwerfen möchte, wie ein unverständliches Buch, sind wir nicht durch ein Naturgesetz gezwungen es zu lieben? (…)
An Caroline von Schlieben, Juli 1801
(…) Ach, dunkel, dunkel ist das alles. – Ich hoffe auf etwas Gutes, doch bin ich auf das Schlimmste gefasst. Freude gibt es ja doch auf jedem Lebenswege, selbst das Bitterste ist doch auf kurze Augenblicke süß. Wenn nur der Grund recht dunkel ist, so sind auch matte Farben hell. Der helle Sonnenschein des Glücks, der uns verblendet, ist auch nicht einmal für unser schwaches Auge gemacht. Am Tage sehn wir wohl die schöne Erde, doch wenn es Nacht ist, sehn wir in die Sterne – – (…)
An Wilhelmine von Zenge, August 1801
(…) Zuweilen, wenn ich die Bibliotheken ansehe, wo in prächtigen Sälen und in prächtigen Bänden die Werke Rousseaus, Helvetius', Voltaires stehen, so denke ich, was haben sie genutzt? Hat ein einziges seinen Zweck erreicht? Haben sie das Rad aufhalten können, das unaufhaltsam stürzend seinem Abgrund entgegeneilt? O hätten alle, die gute Werke geschrieben haben, die Hälfte von diesem Guten getan, es stünde besser um die Welt. (…) Ein Staat kennt keinen andern Vorteil, als den er nach Prozenten berechnen kann. Er will die Wahrheit anwenden – Und worauf? Auf Künste und Gewerbe. Er will das Bequeme noch bequemer machen, das Sinnliche noch versinnlichen, den raffiniertesten Luxus noch raffinieren. – Und wenn am Ende auch das üppigste und verwöhnteste Bedürfnis keinen Wunsch mehr ersinnen kann, was ist dann –? O wie unbegreiflich ist der Wille, der über die Menschengattung waltet! (…) Auch ist immer Licht, wo Schatten ist, und umgekehrt. Wenn die Unwissenheit unsre Einfalt, unsre Unschuld und alle Genüsse der friedlichen Natur sichert, so öffnet sie dagegen allen Greueln des Aberglaubens die Tore – Wenn dagegen die Wissenschaften uns in das Labyrinth des Luxus führen, so schützen sie uns vor allen Greueln des Aberglaubens. Jede reicht uns Tugenden und Laster, und wir mögen am Ende aufgeklärt oder unwissend sein, so haben wir dabei so viel verloren, als gewonnen. – Und so mögen wir denn vielleicht am Ende tun, was wir wollen, wir tun recht – Ja, wahrlich, wenn man überlegt, daß wir ein Leben bedürfen, um zu lernen, wie wir leben müssten, dass wir selbst im Tode noch nicht ahnden, was der Himmel mit uns will, wenn niemand den Zweck seines Daseins und seine Bestimmung kennt, wenn die menschliche Vernunft nicht hinreicht, sich und die Seele und das Leben und die Dinge um sich zu begreifen, wenn man seit Jahrtausenden noch zweifelt, ob es ein Recht gibt? – kann Gott von solchen Wesen Verantwortlichkeit fordern? Man sage nicht, dass eine Stimme im Innern uns heimlich und deutlich anvertraue, was recht sei. (…) Was heißt das auch, etwas Böses tun, der Wirkung nach? Was ist böse? Absolut böse? Tausendfältig verknüpft und verschlungen sind die Dinge der Welt, jede Handlung ist die Mutter von Millionen andern, und oft die schlechteste erzeugt die besten – Sage mir, wer auf dieser Erde hat schon etwas Böses getan? Etwas, das böse wäre in alle Ewigkeit fort –? Und was uns auch die Geschichte von Nero, und Attila, und Cartouche, von den Hunnen, und den Kreuzzügen, und der spanischen Inquisition erzählt, so rollt doch dieser Planet immer noch freundlich durch den Himmelsraum, und die Frühlinge wiederholen sich, und die Menschen leben, genießen, und sterben nach wie vor.
An Marie von Kleist, November 1811
(…) Es ist mir ganz unmöglich länger zu leben; meine Seele ist so wund, dass mir, ich möchte fast sagen, wenn ich die Nase aus dem Fenster stecke, das Tageslicht wehe tut, das mir darauf schimmert. Das wird mancher für eine Krankheit und überspannt halten; nicht aber du, die fähig ist die Welt auch aus andern Standpunkten zu betrachten als aus dem Deinigen. Dadurch, dass ich mit Schönheit und Sitte, seit meiner frühsten Jugend an, in meinen Gedanken und Schreibereien, unaufhörlichen Umgang gepflogen, bin ich so empfindlich geworden, dass mich die kleinsten Angriffe, denen das Gefühl jedes Menschen nach dem Lauf der Dinge hienieden ausgesetzt ist, doppelt und dreifach schmerzen. So versichre ich Dich, wollte ich doch lieber zehnmal den Tod erleiden, als noch einmal wieder erleben, was ich das letzte mal in Frankfurt an der Mittagstafel zwischen meinen beiden Schwestern empfunden habe. Ich habe meine Geschwister immer, zum Teil wegen ihrer gutgearteten Persönlichkeiten, zum Teil wegen der Freundschaft, die sie für mich hatten, von Herzen lieb gehabt; so wenig ich davon gesprochen habe, so gewiss ist es, dass es einer meiner herzlichsten und innigsten Wünsche war, ihnen einmal, durch meine Arbeiten und Werke, recht viel Freude und Ehre zu machen. Nun ist es zwar wahr, es war in den letzten Zeiten, von mancher Seite her, gefährlich, sich mit mir einzulassen, und ich klage sie desto weniger an, sich von mir zurückgezogen zu haben, je mehr ich die Not des Ganzen bedenke, die zum Teil auch auf ihren Schultern ruhte; aber der Gedanke, das Verdienst, das ich doch zuletzt, es sei nun groß oder klein, habe, gar nicht anerkannt zu sehn, und mich von ihnen als ein ganz nichtsnutziges Glied der menschlichen Gesellschaft, das keiner Teilnahme mehr wert sei, betrachtet zu sehn, ist mir überaus schmerzhaft, wahrhaftig, es raubt mir nicht nur die Freuden, die ich von der Zukunft hoffte, sondern es vergiftet mir auch die Vergangenheit. (…)
An Marie von Kleist, November 1811
(…) Ach, ich versichre Dich, ich bin ganz selig. Morgens und abends knie ich nieder, was ich nie gekonnt habe, und bete zu Gott; ich kann ihm mein Leben, das allerqualvollste, das je ein Mensch geführt hat, jetzo danken, weil er es mir durch den herrlichsten und wollüstigsten aller Tode vergütigt. (…)