„Wir können jederzeit eine neue Welt bauen“

Ein Gespräch anlässlich der Uraufführung von "Stern 111" mit Regisseurin Esther Hattenbach, Bühnen- und Kostümbildnerin Regina Lorenz-Schweer und Musiker Johannes Bartmes
„Man wächst aneinander”: Ausstatterin Lorenz-Schweer (links), Regisseurin Hattenbach und Musiker Bartmes in einer Probenpause
Ihr drei arbeitet jetzt seit zehn Jahren zusammen, eure erste gemeinsame Produktion hier am Haus war „Occident Express“ von Stefano Massini. Esther und Regina, eure erste gemeinsame Arbeit fand vor 20 Jahren statt. Provokant gefragt: Versteht ihr euch noch oder seid ihr öfter auch genervt voneinander?
Esther Hattenbach: Wir verstehen uns immer besser.
Johannes Bartmes: Ich schließe mich da unbedingt an.
Regina Lorenz-Schweer: Das Gute an künstlerischen Zusammenarbeiten ist: Die sucht man sich aus, und man wächst aneinander.

Was macht eure gute Zusammenarbeit aus, was schätzt ihr aneinander?
Hattenbach: Regina ist eine Bühnenbildnerin, die den Bühnenraum performativ und radikal denkt. Das zwingt mich und das Ensemble in besondere Spielweisen. Das fordert mich heraus. Und genau das ist meine Sehnsucht: Ich will herausgefordert werden und Theater immer neu denken. Sowohl den Inhalt als auch die Form.
Lorenz-Schweer: Wir ergänzen uns gut – nicht, weil wir alle das Gleiche denken, sondern, weil wir Impulse von den jeweils anderen aufnehmen. Mich inspiriert, was ich von euch höre, und ich hoffe, dass es manchmal auch andersrum ist.
Hattenbach: Absolut. An Johannes schätze ich, dass er sich auf die Herausforderung einlässt, gemeinsam auf der Probe und im Moment der Begegnung mit den Spieler*innen die Musik zu erfinden.

Die Musik entsteht live bei den Proben. Johannes, wie ist dieser Prozess für dich?
Bartmes: Ich liebe es und habe gleichzeitig Schiss davor. Ich kann natürlich ein paar Songs vorbereiten, aber der Soundtrack kann nur auf den Proben entstehen. Den kann ich mir vorher unmöglich ausdenken, weil ich noch keine Ahnung habe, wo es langgehen wird. Wir entwickeln das im Probenprozess.

In „Stern 111“ treten sehr viele Personen auf, besonders im Berliner Setting passiert ganz viel. Hattet ihr sofort eine Vision dazu?
Hattenbach: Für mich war schnell klar, dass mich „Stern 111“ als Strom der Erinnerung fasziniert. Das warf die Frage auf: Wie kann man das auf die Bühne bringen? Wir haben uns im ersten Schritt auf die drei Hauptfiguren Carl, Inge und Walter fokussiert, und dann haben wir aus dem unheimlich reichen Kosmos des Romans Schlüsselszenen und Figuren herausgelöst und diese assoziativ mit den drei Hauptfiguren verknüpft. So kann man den Figuren folgen und zugleich in die sehr vielschichtige und assoziative Welt des Romans eintauchen.

Du hast mit der Dramaturgin Bettina Jantzen zusammen die Stückfassung geschrieben. Was ist der Kern dieses 500-Seiten-Romans?
Hattenbach: Es geht um den Moment des Umbruchs, um das Zeitfenster von November 1989 bis Frühjahr 1991. Da entstand ein aus heutiger Sicht unfassbarer Freiraum. Alles schien möglich. Die Menschen sind sich begegnet, haben Kunst neu gedacht, kollektive Lebensentwürfe gestaltet, sich über Gesellschaft, Zusammenleben und Musik verständigt. Zudem gab es kaum finanzielle Zwänge. Um diesen historischen Moment geht es: das kurze Zeitfenster der unbegrenzten Möglichkeiten.

Spiegelt sich das auch im Bühnenkonzept wider?
Lorenz-Schweer: Ich habe nach einer Verbildlichung der Erinnerungsebene gesucht, aus der heraus verschiedene Bilder und Szenen entstehen und wieder vergehen können. Es gibt große, hängende Folienbahnen. Wenn sie in den Zwischensequenzen mit Licht und Wind in Bewegung gesetzt werden, wirken sie vielleicht wie ein lebendiges, sich
immer wieder veränderndes Erinnerungswesen.

Wie wird die Musik dazu klingen?
Bartmes: Es gibt eine musikalische Ebene mit Songs, die ich teilweise erst durch Esthers Anregung kennengelernt habe. Da ist Ostrock, Punk und Pop dabei, vielleicht auch Elemente des Techno. Daneben wird es die Soundtrack- und Geräuschebene geben. Wie sich die am Ende konkret anhört, wissen wir erst zur Premiere. (lacht)

Altersmäßig seid ihr alle relativ nahe beieinander, seid aber nicht alle im Osten aufgewachsen. Unterscheidet sich euer Musikerlebnis, gibt es so etwas wie einen Ost-Sound?
Bartmes: Ich würde sagen, ich habe den Sound als Jugendlicher im Westen unter anderen Bedingungen, aber mit einem ähnlichen Lebensgefühl auch erlebt. So etwas Progressives, Widerständiges, politisch Engagiertes, Raues. Auch das Thema Wut spielt eine Rolle.
Hattenbach: Mir ist die Zeit vertraut. Durch die Beschäftigung mit „Stern 111“ ist mir diese unglaublich positive Kraft von Aufruhr und Wut noch einmal klargeworden. Ich hatte vergessen, was für eine grandiose Energie das war und wie weit wir uns davon entfernt haben, weil Wut inzwischen als etwas Destruktives, Schwieriges gelabelt wird. Da sind wir falsch abgebogen. Wut im Sinne von Konflikt, gelebte Auseinandersetzung, etwas wollen, Grenzen einreißen, sich nicht zufriedengeben, ist etwas Starkes.

Regina, wie hast du dich an das Thema herangetastet?
Lorenz-Schweer: Es war sehr inspirierend, mit vielen Menschen über diese besondere Zeit ins Gespräch zu kommen, Filme zum Thema zu schauen, in Büchern zu recherchieren.

Gibt es Gegenstände oder Kostüme, mit denen ihr die Geschichte in die entsprechende Zeit bringt?
Lorenz-Schweer: Es ist eine Gratwanderung: Wie viel Realismus darf es sein, damit es nicht zum Klischee wird? Es geht um Erinnerungsbilder von Carl und seinen Eltern.

Die Buchvorlage bietet ja auch schon sehr genaue Beschreibungen.
Lorenz-Schweer: Das ist bei Lutz Seiler wirklich toll, dass er zum Beispiel die Kleidung der Eltern so genau beschreibt. Daran habe ich mich erstmal festgehalten, um dann immer mehr die Essenz herauszuholen, denn die Charaktere sollen mit dem Kostüm ganz klar gezeichnet sein.

Inwieweit wird das titelgebende Radio eine Rolle spielen?
Hattenbach: Es gibt das Radio. Allerdings nicht als dieses ikonische DDR-Requisit. Es geht vielmehr darum, dass das Radio aus dem Kosmos, aus dem Äther, Schwingungen einfängt, die sich verdichten. Und das steht wiederum im Zusammenhang mit dem bereits erwähnten Erinnerungsstrom und der Erzählweise für „Stern 111“.

Warum ist es so wichtig, diese Geschichte aus der Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs nach 1989 zu erzählen?
Hattenbach: Es ist wichtig, uns zu vergegenwärtigen, dass unsere Welt eine Welt ist, die wir Menschen selbst erschaffen und bauen. Wir legen die Regeln fest, wie in dieser Welt gelebt wird. Dieser Versuch wurde in dem kurzen Zeitfenster zwischen November 1989 und Frühjahr 1991 unternommen. Wir können das auch heute tun. Wir können jederzeit eine neue Welt bauen. Und das finde ich wesentlich.

Interview: Sarah Kugler [erschienen in ZUGABE MAGAZIN 01-2025]

KOSMOS CARL

In seiner poetischen Rückschau auf die außergewöhnliche Zwischenzeit, die dem Mauerfall 1989 folgte, verarbeitete Lutz Seiler vielfältige Erfahrungen, Erinnerungen und Recherchen. Der Roman verbindet den Weg der Selbstfindung eines jungen Mannes mit der Wanderung seiner Eltern hinein in ein anderes Leben. Das Radio „Stern 111“ steht dabei als Metapher für die einsame Kontaktsuche über den Äther, wie auch für einen Lebenstraum, dem man wie einem Leitstern folgt. Es sei, so Lutz Seiler in einem Interview, „ein Ding, mit dem man gelebt hat, über viele Jahre. Und das dadurch eine Art Erinnerungsspeicher geworden ist und eine Quelle für das Erzählen.“

Der Akt des Erinnerns und Erzählens wurde zum Ansatz für die Umsetzung auf der Bühne. Erinnern erfolgt nicht linear und logisch, es kann zwischen den Zeiten springen und im Zeitraffer ablaufen. Ein Bild, eine präzis beschriebene Situation, ein emotionaler Moment oder Gedankensplitter können erinnert werden, aber auch Stimmungen oder Sounds. Die Erinnerung ist kreativ – selbst als kuriose Montage gegensätzlicher Motive oder als extrem überzeichnete Szene kann sie Gestalt finden. Regisseurin Esther Hattenbach spricht von einem „Erinnerungsstrom“.

Woher kam die Idee, den Romanstoff als Erinnerungsstrom zu begreifen?
Esther Hattenbach: Der Roman ist im besten Sinne überbordend angefüllt mit Figuren, Ereignissen, Gedanken, Beobachtungen, Situationen, Mitteilungen, Zeitberichten, Traumsequenzen, Bildern, Musiken und Geräuschen. All dies findet in einer gefühlten Gleichzeitigkeit statt. Das macht Spaß, ist inspirierend und warf die Frage auf: Wie bringt man das auf die Bühne, ohne diese Vielfalt und Gleichzeitigkeit zu verlieren? Das führte zur Idee, die Hauptfiguren
auf ihren sehr unterschiedlichen Wegen zu begleiten – durch die Wendewirren, das Chaos, die Vergangenheit, das Jetzt und die Zukunft, verknüpft nach dem assoziativen Prinzip des intuitiven Erinnerns.

Welche Konsequenzen hat das für die Theaterfassung und die Inszenierung?
E.H.: Die Theaterfassung gibt keine zeitliche Handlungsabfolge wieder, sondern begibt sich tief in den „Kosmos Carl“ hinein. Seine Innenwelt wird zur Außenwelt. Seine Erlebnisse verknüpfen sich assoziativ mit Szenen, Bildern, Eindrücken usw., die vermeintlich aus dem Nichts entstehen, für Momente real, teilweise hyperreal werden und dann wieder zerfallen. Sie bleiben als Eindrücke bestehen, aber nicht im Sinne einer Bedingung für eine logische Handlungsabfolge.

Warum ist es bedeutsam, diesem Erinnerungsstrom heute eine Bühne zu geben?
E.H.: Das Entstehen, Realwerden und Zerfallen von Szenen als Mechanik der Bühnenwelt verdeutlicht für mich, dass auch unsere reale Welt von der Ordnung und den Regeln bestimmt wird, die wir uns selbst gegeben haben. Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass unsere Welt eine Welt ist, die wir Menschen selbst erschaffen und bauen. Unsere Welt und unsere Gesellschaftsordnung sind keine festen Gegebenheiten. Wir legen fest, wie in dieser Welt gelebt wird. Und genau dieser Versuch wurde auch in dem kurzen Zeitfenster zwischen November 1989 und Frühjahr 1991 unternommen. Und das können wir auch heute. Wir können jederzeit eine neue Welt bauen. Das finde ich wesentlich.

Interview: Bettina Jantzen

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