GEDANKEN ZUM STÜCK

„Kaum hat man sich’s gemütlich gemacht, bricht die Hölle los“. Pointiert bringt der Housekeeper Mr. Clackett hier eine Weisheit aus seinem Housekeeper-Erfahrungsschatz zum Ausdruck, die zugleich zwei Pole markiert, zwischen denen sich der wahnwitzige Komödienkosmos dieses Stücks entfaltet: Ruhe und Hölle. Mit anderen Worten: Ordnung und Chaos. Das Tückische dabei: Dem äußeren Anschein ist nicht zu trauen. Was zunächst den Eindruck friedlicher Behaglichkeit vermittelt, kann sich sekundenschnell in ein vollkommenes Durcheinander verwandeln. Die Diskrepanz zwischen Sein und Schein bildet gewissermaßen das brüchige Fundament des Bühnengeschehens. Täuschungen, Missverständnisse und Verwechslungen pflastern den Weg der Figuren. Das gilt sowohl für die Theatertruppe als auch für das Personal aus dem Stück im Stück „Lass dich nicht erwischen“.

In der verschachtelten Handlung und dem Türen-Labyrinth drohen fast alle die Orientierung zu verlieren. Dazu kommt, dass die materielle Welt in diesem Bühnenkosmos – Türklinken, Treppenstufen, Telefonapparate, Betttücher, Sardinen etc. – auf geradezu sardonisch boshafte Weise das Verhalten der Figuren zu sabotieren scheint. Was außerdem zur allgemeinen Konfusion beiträgt: Alle haben etwas zu verbergen, verschleiern also ihre wahren Absichten und treiben ein doppeltes Spiel. Auch im Bereich der Körpersprache misslingt die Verständigung, wie es uns insbesondere der 2. Akt auf groteske Weise vor Augen führt. Der englische Originaltitel der Komödie, „Noises off“ (Geräusche aus), entspringt der speziellen dramaturgischen Setzung dieses Aktes. Autor Michael Frayn, der sich philosophisch intensiv mit der Uneindeutigkeit menschlicher Kommunikation und aller Erscheinungen befasst hat, erzählt also von einer Wirklichkeit, die verwirrend, brüchig, voller Missverständnisse – und zugleich ziemlich komisch daherkommt.

Insofern ist es naheliegend, dass Frayn sein Stück ausgerechnet im Theater ansiedelt. Denn hier – auf den Brettern, die die Welt bedeuten – hausen ja gewissermaßen Expert*innen für die fragile Dialektik von Schein und Sein, von Ordnung und Chaos. Das Erschaffen poetischer Welten ist hier auch kein hehrer Akt, sondern wird gehörig durcheinandergewirbelt durch allerlei emotionale Verstrickungen, Krisen und Machtverhältnisse. Im Blick auf die Herrschaftsstrukturen am Theater ist Frayns Stück von 1982 allerdings teilweise veraltet. Deshalb haben wir in unserer Inszenierung durch Änderungen in Text und Besetzung einige Typisierungen zeitgemäßer gestaltet. Die eigentlich vorgesehene Figur des männlichen Regietyrannen z.B., der Affären mit einer devoten Regieassistentin und zugleich einer Protagonistin aus dem Ensemble hat, wollten wir nicht reproduzieren und haben diese Konstellationen neu interpretiert.

Im Kern aber bleibt das Stück unverändert eine großartige Liebeserklärung an das Theater. Weil es von einer Bühnentruppe erzählt, die tapfer bereit ist, auf dem schmalen Grat zwischen Ordnung und Chaos, zwischen Sinn und Unsinn zu balancieren. Weil es um Figuren geht, die auch angesichts des peinlichst drohenden Scheiterns nicht aufgeben, sondern darum kämpfen, dass die Aufführung irgendwie weitergeht. Allen Wirrnissen, Missverständnissen, Beziehungsturbulenzen und menschlichen Schwächen zum Trotz: „Ehrlich, manchmal möchte ich mich hinsetzen und heulen – Lass mal, Herzchen, das geht uns im Moment allen so. – Abbrechen? – Nein, nein! Weiter! Wir lassen uns was einfallen.“

Christopher Hanf

„Wir haben Tränen gelacht“

Im echten Theater-Leben geht es manchmal genauso verrückt zu wie in Michael Frayns Backstage-Komödie Der nackte Wahnsinn. Sieben Anekdoten aus dem Potsdamer Bühnen-Alltag
Zu klein gebaute Bühnenbilder, Vorstellungsbeginn unter der Dusche oder kryptische Regieanweisungen – am Theater geht es öfter mal drunter und drüber. Davon erzählt nicht nur Michael Frayns Stück „Der nackte Wahnsinn“, das in der Regie von Bettina Jahnke am 11. April Premiere im Großen Haus hat – es ist auch die tägliche Realität, die alle Gewerke eines Hauses erleben. Genau deswegen bringt Intendantin Bettina Jahnke diesen Stoff auf die Bühne; mit der Inszenierung erfüllt sie sich einen lange gehegten Regietraum. Und das, obwohl sie katastrophale Erinnerungen mit dem Stück verbindet.

Während ihrer Intendanz in Neuss wurde „Der nackte Wahnsinn“ inszeniert und, wie an einem Landestheater üblich, an mehreren Orten gespielt. Die Schwierigkeit dabei: Das Bühnenbild mit seinen vielen Türen und zwei Etagen musste auf jede dieser unterschiedlichen Bühnen passen. „Leider hatte sich die Technik verrechnet, zu hoch gebaut, und auf einer Bühne war dann von der zweiten Etage nur noch die Hälfte zu sehen“, erzählt Jahnke. Die Schauspieler*innen mussten darum bestimmte Szenen im Kriechgang und in der Hocke spielen – ein Kunstgriff, den das Publikum nicht gut aufnahm. „Der Saal war irgendwann leer, auch, weil die Spielenden kaum zu verstehen waren.“

Heute kann sie darüber lachen, damals war es ein Grauen mit Nachspiel. Abschrecken lässt sich Jahnke davon aber nicht. Auch nicht davon, dass das Stück schon etwas in die Jahre gekommen ist: Sie entstaubt, was zu entstauben geht. Den Regisseur, der eine Affäre mit der Regieassistentin hat, macht sie zum Beispiel zu einer Regisseurin. „Die Geschichte vom mächtigen älteren Mann, der sich alles erlaubt, wollte ich nicht nochmal erzählen.“

Gespielt wird die Regisseurin von Katja Zinsmeister, die selbst schon Erfahrungen mit despotischen Regisseuren gemacht hat. Über eine Erinnerung schüttelt sie bis heute den Kopf: Sie spielte die Margarita in „Der Meister und Margarita“ und probte einen großen Monolog während einer Beerdigungsszene. „Hinter mir zog der Trauerzug vorbei, es regnete“, beschreibt sie den Moment. Um ihrer Figur gerecht zu werden, bat sie den Regisseur um genaue Hinweise zu ihrer Verfassung, den Emotionen, der Gesamtsituation. Doch alles, was er sagte war: „Es regnet, ist erotisch!“ Auch auf mehrfache Nachfrage bekam sie keine andere Antwort. „Ich habe die Probe dann irgendwann verlassen und die Tür geknallt“, sagt Zinsmeister. „Das erste und einzige Mal in meinem Leben.“

Immer noch lachen muss sie hingegen über manche Kostüm- oder Maskenanekdoten. Bei einer Vorstellung von Virginia Woolfs „Orlando“ kam ihr beispielsweise mal ein Bart abhanden, den sie während der gesamten Vorstellung nicht wiederfand und der dann beim Schlussapplaus seitlich im Gesicht einer Kollegin klebte. „Wir haben Tränen gelacht.“

Ohne Bart, dafür mit Filzpantoffeln betrat Jon-Kaare Koppe, der ebenfalls in „Der nackte Wahnsinn“ mitspielt, vor vielen Jahren die Bühne – in einem antiken Drama. Goethes „Iphigenie auf Tauris“ stand auf dem Plan, Koppe spielte normalerweise in antiker Kriegermontur, mit Schwert, aber ohne Schuhe. „Damit ich beim Warten auf meinen Auftritt keine kalten Füße bekomme, gaben mir die Kolleginnen vom Kostüm Filzpantoffeln, mit denen ich hinter der Bühne stand“, berichtet er. „Naja, und einmal habe ich vergessen, sie auszuziehen.“ Das Publikum merkte zum Glück nichts, ein paar Schauspielkolleg*innen feixten. „Ich selbst habe mich doch ziemlich erschrocken, ich war noch so jung damals.“

Inzwischen hat er den Schreck überwunden, genauso wie René Schwittay, der einmal beinahe einen Auftritt verpasste, weil er unter der Dusche stand. Damals spielte er in „Frau Müller muss weg“ und hatte vergessen, dass die Vorstellung bereits um 18 Uhr und nicht wie üblich um 19:30 Uhr begann. „Ich habe mir einen schönen Sonntag gemacht und dachte, ich habe noch genug Zeit.“ Während er duschte, klopfte plötzlich seine Frau, die vom Theater angerufen wurde, und unterrichtete ihn, dass er in genau 15 Minuten auf der Bühne stehen müsse. „Ich war auch noch der Erste, der auftrat! Also bin ich wie ein Berserker mit dem Rad losgerast, quasi im Vorbeigehen in Kostüm und Maske geflogen und dann tatsächlich pünktlich aufgetreten.“

Anders erging es einer Kollegin, die Inspizientin Nike Weber mehrmals vergeblich zu ihrem Auftritt eingerufen hat. „Unsere Sprechanlage reicht leider nicht bis nach draußen“, sagt Weber. „Sie stand in ihrer Spielpause ein bisschen an der frischen Luft und hat mich einfach nicht gehört.“ Nachdem Weber es mehrfach über die Sprechanlage versucht hatte, stürmte schließlich eine Schauspielkollegin von der Bühne, um sie zu holen. Alle improvisierten, um die Szene zu retten, und alles ging gut aus.

Richtig ins Schwitzen kam die Inspizientin allerdings, als eine Schauspielerin während der Vorstellung von Roland Schimmelpfennigs „Das schwarze Wasser“ – ein höchst komplexer Text, der keinen Raum für Improvisation lässt – plötzlich vier Seiten Text übersprang. Profi, die sie ist, gab sie Licht und Ton sofort Zeichen, so dass die Vorstellung an der nun eingeleiteten Stelle korrekt weitergehen konnte. „Zum Glück haben auch alle Schauspieler*innen sofort geschaltet“, sagt Weber. „Wer das Stück nicht kannte, hat den Sprung nicht bemerkt.“

Auch wegen Situationen wie dieser möchte Bettina Jahnke „Der nackte Wahnsinn“ unbedingt inszenieren. „Ich habe einfach so eine Hochachtung vor den Kolleg*innen, wie alle mit solchen Situationen umgehen“, erklärt sie. „Theater ist eben Verabredung, und am Ende ist man immer wieder überrascht, fassungslos und erleichtert zugleich, dass der Lappen hochgeht und es funktioniert.“

Sarah Kugler [erschienen in ZUGABE MAGAZIN 02-2025]

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Ein längeres Porträt über den Autor Michael Frayn können Sie hier lesen
In einem ausführlichen Interview erzählt Michael Frayn von seinen Erfahrungen als Autor. Das Interview wurde abgefilmt und kann auf Youtube angeschaut werden, allerdings nur auf Englisch. Wenn Sie Teile des Interviews ansehen wollen, seien Ihnen folgende Passagen empfohlen: In den Minuten 12,33 – 19,50 geht es um Frayns Anfänge als Dramatiker und die Bedeutung des Publikums im Theater. In den Minuten 29,00 – 36,25 spricht Frayn über die Zusammenhänge von Chaos, Absurdität und Komik (auch in philosophischer Hinsicht). Und in den Minuten erzählt er von Momenten des Scheiterns, die es in seinem Autorenleben reichlich gab.
„Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern“. So lautet ein berühmtes Zitat des Schriftstellers Samuel Beckett. In Kunstprozessen ist die Möglichkeit des Scheiterns bzw. der Umgang mit dem Scheitern ein wesentlicher Aspekt. Um den Reiz des Scheiterns in Musik, Theater und bildendender Kunst geht es
Insbesondere das Theater im deutschsprachigen Raum ist stark durch die Arbeit von Regisseur*innen geprägt. Man spricht hier deshalb auch vom Regietheater. Unter der Leitung von Regisseur*innen entwickelt das Ensemble einen künstlerischen Zugriff auf die zu inszenierenden Texte. Die besondere Rolle der Regie führt dazu, dass Regisseur*innen sich in einer Machtposition befinden, die auch missbraucht werden kann. Berühmte Regisseur*innen sind oft ausgeprägte, starke Persönlichkeiten, über die sich vorzüglich anekdotisch berichten lässt. Der leider inzwischen verstorbene, große Schauspieler Gert Voll erzählt im Gespräch mit dem Moderator Harald Schmidt von seiner Arbeit mit herausragenden Regie-Stars. Empfohlen sei Ihnen vor allem die Passage, in der es um den Regisseur und Intendanten Claus Peymann geht. (in den Minuten 07,20 – 19,30).