REGISSEUR KIERAN JOEL IM GESPRÄCH

Was interessiert dich an dem Roman?
Inhaltlich interessiert mich seine komplexe Verhandlung von Körper, Identität und familiärer Prägung. Er zeigt eindringlich, wie persönliche Geschichte mit gesellschaftlichen Strukturen verwoben ist – von Geschlechternormen über Klassenunterschiede bis zu generationenübergreifenden Traumata. Dabei wird das individuelle Schicksal einer nonbinären Person zu einem Prisma, durch das fundamentale menschliche Fragen betrachtet werden. Es geht um Identität generell – wie wir zu dem werden, was wir sind, wie Familiengeschichte uns prägt, wie gesellschaftliche Erwartungen uns formen. Der Text zeigt, wie jeder Mensch in gewisser Weise mit Zuschreibungen und Normierungen kämpft, wie wir alle versuchen, unseren eigenen Weg zwischen Anpassung und Selbstbestimmung zu finden. Formal interessiert mich der Roman in seiner Radikalität, seinem Humor, seiner Hyperreflexivität und seiner Zumutung an die Leser*innen. „Blutbuch“ ist ein Text, der Grenzen überschreitet.

Im Zentrum des Abends steht eine nonbinäre Figur. Welche Vorüberlegungen gab es zur Verkörperung dieser Figur auf der Bühne?
Die Darstellung von marginalisierten Identitäten und Erfahrungen erfordert eine besondere Sensibilität. Es geht dabei nicht nur um die schauspielerische Darstellung, sondern auch um Fragen der Deutungshoheit und Repräsentation. Wir müssen uns fragen: Wer spricht hier für wen? Wer hat die Macht zu definieren, wie diese Erfahrungen dargestellt werden? In unserer Produktion verstehen wir die nonbinäre Lebensweise nicht als etwas, das einfach „dargestellt“ werden kann, sondern als eine komplexe Realität, die wir mit theatralen Mitteln erforschbar machen wollen. Auch der Roman behandelt Identität nicht als etwas Fixes, sondern als etwas Fluides, sich ständig Veränderndes. Diese Perspektive haben wir aufgegriffen und versuchen, sie erfahrbar zu machen – nicht als Aneignung, sondern als Einladung, über Identität und Zuschreibungen nachzudenken. Letztlich ist es eine Gratwanderung zwischen der Notwendigkeit, diese wichtigen Geschichten zu erzählen, und der Verantwortung, dies auf respektvolle und reflektierte Weise zu tun.

Die Bühne von Barbara Lenartz ist geprägt durch den Riesenköper der Grossmeer. Was hat es damit auf sich?
Die Grossmeer ist eine Art Projektionsfläche für Familiendynamiken und verkörpert gleichzeitig verschiedene gesellschaftliche Prägungen. Der Text beschreibt sie wiederholt als eine dominante, fast monströse Figur und ihre physische Präsenz wird oft betont. Diese körperliche Dominanz spiegelt auch ihre emotionale Macht über die Familie wider. Die Familiengeschichte bildet in der Inszenierung das Fundament der Geschichte. Über mehrere Generationen wird nachgezeichnet, wie Traumata, Geschlechterrollen und Klassenzugehörigkeit weitergegeben werden.

Welche Rolle spielt die Dimension Körper bzw. Körperlichkeit in deiner Inszenierung?
Eine zentrale Rolle. In vielen Szenen übersetzen wir die körperliche Selbstentfremdung der Hauptfigur in physisches Theater. Statt diese Erfahrung nur zu beschreiben, machen die Schauspielerinnen sie durch ihre eigene Körperlichkeit erlebbar. Es geht dabei nicht um ein intellektuelles Verstehen dieser Fremdheitserfahrung, sondern um eine unmittelbare körperliche Resonanz zwischen Spielenden und Publikum. Wir nutzen die Körper der Schauspieler*innen als Medium, um die im Roman beschriebene existenzielle Körpererfahrung direkt spürbar zu machen.

Inwiefern spielt auch das Thema Sex in diese Dimension mit hinein?
Sexualität wird im Roman sehr direkt und körperlich verhandelt. Die Hauptfigur beschreibt explizit sexuelle Begegnungen als Weg, den eigenen Körper zu spüren. Sex wird als Versuch dargestellt, körperliche Selbstentfremdung zu überwinden, aber auch als Ausdruck von Macht- und Klassendynamiken.

Welche Rolle spielt dabei Scham?
Scham ist in dieser Geschichte ein zentraler Antriebsfaktor. Ob es die körperliche Scham der Hauptfigur ist, die Klassenscham oder das große familiäre Schweigen: Alles wurzelt in tiefsitzender Scham. Diese Scham wird aber nicht nur beschrieben – sie wird überwunden, indem über sie geschrieben wird. Genau hier setzt unsere theatrale Übersetzung an: Die Schauspieler*innen liefern sich in ihrer körperlichen Präsenz dem Publikum aus. Sie überschreiten bewusst Schamgrenzen – nicht als Selbstzweck, sondern als Akt der Befreiung. Ich glaube sehr an ein Theater, in dem Menschen auf der Bühne den Mut haben, ihre Verletzlichkeit zu zeigen, ihre Scham körperlich erfahrbar zu machen, dann kann dies auch im Publikum etwas lösen.

Der Abend gibt auch dem historischen Überblick zur Geschichte der Blutbuche Raum. Was interessiert dich an diesem Aspekt?
Die Geschichte der Blutbuche ist im Text weit mehr als nur ein botanischer Exkurs. Sie funktioniert als faszinierender Spiegel für zentrale Themen des Romans. Einerseits zeigt sich in der Geschichte dieses Baums die Frage nach Herkunft und Identität – wer darf bestimmen, woher etwas oder jemand „wirklich“ kommt? Die nationalistischen Debatten um den „Ursprung“ der Blutbuche spiegeln dabei auf fast schon satirische Weise aktuelle Diskussionen um Zugehörigkeit und Identität. Andererseits wird die Blutbuche zum Symbol für soziale Distinktion – wie sie erst als exklusives Statussymbol der Adeligen dient und dann zum Zeichen bürgerlichen Aufstiegswillens wird. Diese Geschichte von sozialer Zugehörigkeit und Ausgrenzung verwebt sich direkt mit der Familiengeschichte der Erzählfigur Kim, deren Urgroßvater sich eine Blutbuche in den Garten pflanzt, die er sich eigentlich nicht leisten kann. Die Blutbuche wird so zu einem verbindenden Element, das persönliche und gesellschaftliche Geschichte zusammenbringt. Sie ist gleichzeitig ein sehr konkreter Ort der Kindheitserinnerungen und ein Symbol für größere Fragen von Identität, Zugehörigkeit und sozialer Mobilität. Diese Vielschichtigkeit macht die Blutbuche zu einem wichtigen Element unserer Inszenierung.

Inwiefern prägt die besondere Struktur des Romans die Inszenierung?
Wir erzählen, genau wie der Text, nicht linear, sondern in einer Art Spiralbewegung. Bestimmte Themen und Motive tauchen immer wieder auf, werden dabei aber jedes Mal tiefer verhandelt und aus neuen Perspektiven beleuchtet. Diese Struktur schafft eine besondere Art der Spannung: Manchmal passieren Dinge auf der Bühne, die sich erst drei Szenen später wirklich erschließen. Die Zuschauer*innen müssen Verbindungen selbst herstellen und werden Teil dieses assoziativen Erzählens. Die spiralförmige Struktur erlaubt es uns, Themen wie Identität, Familie oder Trauma nicht einfach abzuhandeln, sondern sie immer wieder neu aufzugreifen und in ihrer Komplexität zu zeigen.

Welche Rolle spielen Bühne, Kostüme, Video und Musik?
Eine absolut zentrale. Theater ist vor allem ein Ort der sinnlichen Erfahrung. Das Buch überwältigt uns an vielen Stellen durch seine Radikalität – sowohl sprachlich als auch inhaltlich – und diese Überwältigung versuchen wir ästhetisch zu übersetzen. Die verschiedenen theatralen Mittel – Bühne, Kostüme, Video, Musik sollen an dem Abend dazu beitragen, die emotionale und intellektuelle Wucht des Textes in eine sinnliche Theatererfahrung zu transformieren. Die Zuschauer*innen sollen nicht nur über Geschlechtsidentität, Körperlichkeit oder Trauma nachdenken, sondern diese Themen auch körperlich-sinnlich erfahren können. Genau wie der Text seine Leser*innen nicht nur auf der gedanklichen Ebene fordert, wollen wir auch auf der Bühne verschiedene Wahrnehmungsebenen ansprechen und manchmal auch überfordern – im besten Sinne.

Im Roman wird immer wieder selbstreflexiv die Prozesshaftigkeit des Schreibens thematisiert. Inwiefern hat dieser Aspekt eure Arbeit beeinflusst.
Unter anderem dadurch, dass wir die Proben selbst stark als Prozess verstanden haben. Ich bin bewusst nur mit einer groben Textfassung in die Proben gestartet – einer wilden Sammlung dessen, was mich am Text am meisten interessiert und fasziniert hat. Ich wusste nicht genau, wie dieser Abend aussehen würde, kannte die endgültige Reihenfolge der Szenen nicht und hatte keine festgelegte Vorstellung von der konkreten Spielweise. Natürlich hatte ich Ideen und Phantasien, aber diese haben sich durch die Begegnung mit den Schauspieler*innen kontinuierlich weiterentwickelt und verändert. Deren Art zu sprechen, ihre Bewegungen, ihre Persönlichkeiten und vor allem ihre eigenen Gedanken zum Text haben die Inszenierung maßgeblich mitgestaltet. Dieser Prozess spiegelt in gewisser Weise Kims Schreibprozess – auch hier gibt es dieses produktive Spannungsfeld zwischen klaren Vorstellungen und dem Sich-Treiben-Lassen, zwischen Kontrolle und Offenheit. Die endgültige Form des Abends ist erst durch diese lebendige Auseinandersetzung im Probenprozess entstanden.

Gibt etwas im Umgang mit dem Stoff, das dich überrascht, dir neue Perspektiven eröffnet hat?
Mich hat am meisten überrascht, dass diese sehr persönliche Geschichte, von der wir gar nicht wissen, was daran wirklich biografisch ist, erstaunlich viele Anknüpfungspunkte für eigene Erfahrungen bietet – ob es um Familie geht, um Körperlichkeit oder um die Frage, wie wir zu dem werden, was wir sind. Eine weitere Überraschung war, wie aktuell und politisch der Text in der praktischen Arbeit wurde. Was beim ersten Lesen noch sehr persönlich wirkte, offenbarte in der Umsetzung immer mehr seine gesellschaftliche Dimension. Und natürlich hat mich auch überrascht, nochmal damit konfrontiert zu werden, wie stark ich selbst in binären Denkstrukturen gefangen bin.

Das Gespräch führte Christopher Hanf
Kieran Joel Foto: Luise Schmidt-Rooschüz

Das Spiel mit der Identität

Kieran Joel inszeniert Kim de l’Horizons Roman Blutbuch in der Reithalle.
Er kann fein sein oder sich im Slapstick überschlagen: Für Kieran Joel ist Humor ein „absolutes Erkenntnismedium“ und kennt keine Grenzen. „Nur im Witz kann aus zwei Dingen, die in Opposition zueinanderstehen, eine Wahrheit entstehen“, sagt der Regisseur, der Kim de l’Horizons „Blutbuch“ in der Reithalle inszeniert und auch die Stückfassung selbst schreibt – die trotz all der ernsten Themen durchaus von Witz durchzogen sein könnte.

In dem autofiktionalen Roman, der 2022 den Deutschen und den Schweizer Buchpreis gewann, setzt sich eine nicht binäre Erzählfigur – eine Person, die sich nicht ausschließlich als männlich oder weiblich identifiziert – mit der eigenen Familiengeschichte auseinander. Gerichtet ist der Text an die Großmutter, im Schweizerdeutschen „Großmeer“ genannt, die wie viele Frauen der Familie Schmerz erfahren hat. Wie sich dieser Schmerz, dieses transgenerationale Trauma, auf die Erzählfigur auswirkt, wie es ihre Identitätsfindung und die Sehnsucht nach Verankerung beeinflusst, verdeutlicht Kim de l'Horizon sprachgewaltig und berührend.

Für Kieran Joel, der 1984 in Niebüll an der Nordsee geboren wurde, ist das vererbte Trauma und die damit verbundene Identitätssuche der Kern der Geschichte. „Man kann Identität am gesündesten in einem gesunden Umfeld entwickeln, in dieser Familie geht aber ganz viel im Schweigen unter.“ Wie damit im biografischen Erzählen umgegangen wird, wieviel Authentizität wirklich darin stecken kann, findet er besonders spannend. „Man darf nicht vergessen, dass Kim de l’Horizon literarisches Schreiben studiert hat und ganz genau weiß, welche Stilmittel eingesetzt werden können, um bestimmte Reaktionen auszulösen“, sagt Joel. Nie ist ganz klar: Was ist Konstruktion, was echtes Gefühl?

Genau deswegen sei der Text auch so gut für‘s Theater geeignet. Diesen Raum, der konstruiert und gleichzeitig so emotionsgeladen ist. Sowohl auf der Bühne als auch im Roman geht es ums Vorspielen, ums Eintauchen in andere Welten und Zustände. „In dem Buch steckt viel Humor, viel Ironie“, sagt der Regisseur. „Der Text nimmt sich selbst nicht so ernst, das gefällt mir.“ Wäre „Blutbuch“ eine reine Betroffenheitsgeschichte, würde ihn eine Bühnenadaption nicht interessieren.

Was ihn interessiert: die Haltung, welche die Erzählfigur einnimmt – auch zur eigenen Sexualität. Kim de l’Horizon beschreibt Sexszenen explizit, versteckt sich nicht hinter poetischen Worten. „Es ist natürlich auch eine spielerische Provokation, schließlich richtet sich der Text an die Großmutter“, sagt Kieran Joel. „Wenn sie das lesen kann, können
wir das auch darstellen. Davor darf man keine Angst haben.“ Auch nicht vor dem sprachlichen Duktus, der immer wieder wechselt, weil die Erzählfigur den richtigen Ton sucht, um ihr Innenleben ausdrücken zu können. Das Ergebnis ist ein wilder Mix aus märchenhaft-poetischen, wissenschaftlich-sachlichen und vulgär-popliterarischen Textpassagen,
die sich sprachlich immer wieder mit Geschlechterfragen auseinandersetzen.

Wie das am Ende auf der Bühne klingen wird, weiß Joel noch nicht genau. Emotional soll es werden – und ein Abend für alle, die den Roman lieben. Aber auch für alle, die ihn nicht kennen. „Ich vertraue da meinem eigenen Urteil voll und ganz“, sagt der Regisseur. „Wenn mich etwas anfasst, bin ich guter Dinge, dass auch das Publikum etwas mitnehmen kann.“

Text von Sarah Kugler, erschienenen im Theatermagazin ZUGABE, November 2024

WEITERFÜHRENDE LINKS

Um Kim de l’Horizon und den Roman „Blutbuch“ etwas kennenzulernen, ist dieses Kurzporträt vielleicht ein guter Einstieg:
Um den philosophischen Hintergründen des Romans und dem Weltbild von Kim de l’Horizon näherzukommen, ist diese Ausgabe der „Sternstunden der Philosophie“ zu empfehlen:
Allen, die tiefer in den Kosmos „Kim de l’Horizon“ eintauchen möchten, sei diese Ausgabe des Zeit-Podcasts „Alles gesagt?“ empfohlen:
Einen leicht zugänglichen Überblick über die Geschehnisse und Zusammenhänge des Romans „Blutbuch“ finden Sie hier:
Im Zentrum des Romans steht die nonbinäre Erzählperson Kim. Informationen zu den Begriffen „nonbinär“ und „Transgender“ und finden Sie hier:
Und hier:
Ein wiederkehrendes Motiv des Romans sind die Traumata, seelischen Wunden und Gewalterfahrungen, die von Generation zu Generation weitervererbt werden. Informationen zu sogenannten „transgenerationalen Traumata“ finden Sie hier:
Im Hintergrund des Romans stehen u.a. komplexe, hoch spannende philosophische Weltbilder. Einen wesentlichen Bezugspunkt bilden zum Beispiel die „Gender Studies“. Einen guten Überblick über die Geschichte dieser Theorieschule vermittelt dieser Artikel:
Die Erzählperson Kim empfindet eine besondere Verbundenheit mit der Blutbuche im Familiengarten. Der Roman bietet zahlreiche Bezugspunkte zur philosophischen Strömung des „Neuen Materialismus“. Diese geht davon aus, dass alles, was existiert, existiert hat und existieren wird, in einem Zusammenhang steht. Alle Materie habe eine eigene Wirkkraft, alles wirke aufeinander ein und stehe in Resonanzbeziehungen. Über die Theorie des Neuen Materialismus gibt dieser Artikel einen Überblick: