"Ein Abend ganz vieler Stimmen"

Regisseur Malte Kreutzfeldt im Gespräch
„100 Songs“ ist kein Liederabend, oder? Was bedeutet der Titel?
Nein, „100 Songs“ ist ein Abend ganz vieler Stimmen, die gemeinsam über die letzten vier Minuten unmittelbar vor einem Attentat erzählen. Wir vermuten, dass sie alle diesem Anschlag zum Opfer gefallen sind, und deshalb heißt das Stück im Untertitel auch: Ein Requiem. Zu Beginn des Abends wirkt das wie ein Stimmengewirr, fast orientierungslos, aber auch darüber spricht der Text: Sie sind ratlos, heißt es an einer Stelle. Dann ahnt man langsam, dass diese Form nicht wahllos ist, sondern ein präziser Ausdruck der Situation: Menschen im Augenblick einer Explosion, mitten in den durcheinanderfliegenden Scherben. So ist der Text: Wie Scherben. Wir erleben auf der Bühne Bruchstücke, Textscherben, die sich langsam zu einem Bild der Menschen zusammenfügen. Und sehen Stück für Stück in deren Leben, mit allen Sehnsüchten und Konflikten.

Schimmelpfennig hat das Stück mit Blick auf die Zuganschläge in Madrid 2004 geschrieben. Aber bildet es diese tatsächlich konkret ab?
Seitdem ist viel passiert. Der Anschlag in Israel vom letzten Oktober, der größte Terroranschlag seit 9/11, ist viel näher an uns dran und schwingt an unserem Abend natürlich mit. Das Thema des Anschlags nehmen wir sehr ernst. Trotzdem ist der Abend keine konkrete politische Auseinandersetzung damit. „100 Songs“ benennt vielmehr die Ratlosigkeit, die wir alle fühlen. Die Hilflosigkeit, für das Unaussprechliche Worte zu finden.

Der Text kreist immer wieder um die gleichen vier Minuten kurz vor der Explosion. Welche Rolle spielt die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod?
Zum Glück weiß man ja nicht, wann der eigene Tod kommt. Aber das Bewusstsein dafür begleitet uns doch immer wieder, abhängig von Lebensalter und Situation. Einige Charaktere im Stück hadern mit ihrem Leben, andere tun das eben gerade nicht. Das Stück pendelt das Banale und das Tiefgehende sehr schön aus. Aber es betont nie, dass das Leben jederzeit enden kann. Das finde ich wirklich berührend: Für mich ist es eine Anregung zum Nachdenken darüber, wie wir unser Miteinander gestalten wollen. Ob etwas von uns bleibt, Bestand hat. Es ist wirklich nur die Anregung: Das Stück gibt nicht vor, wie es sein soll. Es ist keine Gebrauchsanweisung, das wäre ja auch langweilig. Aber es gibt Denkanstöße, Unabgeschlossenes zu akzeptieren und Ratlosigkeit zu benennen. Vor allem wie wir Beziehungen gestalten wollen, erzählt es auf sehr ungewöhnliche Weise.

Bis auf Sally bleiben alle Figuren namenlos, die Charaktere werden nur angerissen. Wie herausfordernd war das bei der Arbeit?
Es gibt eigentlich keine Rollen im klassischen Sinn. Es gibt nur lose Zusammenhänge zwischen den Figuren. Das macht die Arbeit an diesem Text schwierig, und es gab zu Beginn tatsächlich einige Zweifel. Ich habe das Stück als Herausforderung empfunden. Aber gerade das für mich Neue gefällt mir sehr gut. Diese ungewöhnliche Form, die gewissermaßen in sich selbst die Situation abbildet: Das ist wirklich toll.

Das Gespräch führte Sarah Kugler
Katja Zinsmeister Foto: Thomas M. Jauk

"Es geht um die Kostbarkeit jedes Lebensmoments"

Schauspielerin Katja Zinsmeister über ihre Rolle in "100 Songs"
Auf dem Pressefoto zu „100 Songs“ sieht man, wie dir eine Kaffeetasse aus der Hand fällt. Was hat es damit auf sich?
Die Kaffeetasse fällt der Kellnerin Sally, die im Bahnhofscafé arbeitet, aus der Hand und zerspringt in viele Scherben. Im selben Moment fliegt ein Zug in die Luft, auf den ein Bombenattentat verübt wurde. Man kann das als ein Bild für diese Explosion nehmen. Das Stück hat keine Handlung, die bei A beginnt und bei B aufhört. Es gibt
nur den Moment, in dem der Zug explodiert und die vier Minuten davor. Der Text beschreibt eigentlich diese vier Minuten vor der Explosion.

Worum geht es dem Autor?
Roland Schimmelpfennig hatte das Thema nach den Anschlägen in Madrid 2004 im Kopf und wollte sich der Katastrophe annähern, ohne sie zu kommentieren. Es geht ihm um die Zufälligkeit, mit der man zum Opfer werden kann. Er verwendet eine Erzähltechnik, die Schleifen zieht und die Zeit „ausdehnt“. Dabei springt er vor und zurück. Den Moment selbst beschreibt er nur mithilfe der Tasse.

Die Szene mit der Tasse wiederholt sich immer wieder. Das Publikum wird in diese Schleife hineingezogen.
Genau. Dabei werden mehrere Perspektiven miteinander verwoben. Wir sind neun Schauspieler*innen, und jede*r von uns nähert sich einer Figur an. Insgesamt gibt es etwa 40 Figuren. Wir schlüpfen in verschiedene Rollen und erzählen skizzenhaft ihre Geschichten.

„100 Songs“ ist kein Liederabend, auch wenn der Titel das suggeriert. Sondern?
Es ist ein hochdramatisches Stück, in dem es um Leben und Tod geht. Im wahrsten Sinne des Wortes. Es geht um die Kostbarkeit jedes Lebensmoments im Angesicht des bevorstehenden Todes durch einen Terroranschlag, der unbegreiflich ist.

Sally ist die einzige Figur, die in „100 Songs“ einen Namen trägt. Aber sie ist nicht die Hauptfigur?
Nein. Sie ist besonders, weil sie das Geschehen von außen beobachtet. Die Sally ist, wie alle anderen Figuren auch, nur oberflächlich angerissen.

Sallys Lieblingslied ist „Creep“ von Radiohead. Ist das ein Song, den du fühlen kannst?
Absolut. Sally arbeitet in diesem Bahnhofscafé. Tag für Tag steht sie da und sieht die vielen Menschen, die ihr Leben leben und auf Reisen gehen. Sie hört die Ansagen aus den Lautsprechern, sieht die riesige tickende Uhr und verspürt ein großes Fernweh, während sie schuftet und all diese Leute bedient. Sie selbst ist außen vor.

Welchen Song würdest du gern in deinem letzten Moment hören?
„Blackbird“ von den Beatles. Dieses Lied begleitet mich schon seit Jahrzehnten.

Bei Sally schwingt auch eine Liebesgeschichte mit. Sie wünscht sich, dass ihr mal jemand sagen würde, dass sie schöne Augen hat.
Das finde ich persönlich ganz schön kitschig. Aber sie ist ja auch jünger geschrieben als ich. Das sind Sätze einer jungen Frau, vielleicht auch einer sehr einsamen Frau?

Erschienen in: ZUGABE 01-2024 (Fragen: Sarah Kugler und Björn Achenbach)
Paul Sies Foto: Thomas M. Jauk

SCHAUSPIELER PAUL SIES ANTWORTET AUF FÜNF FRAGEN ZUR „100 SONGS“-INSZENIERUNG

Worum geht es in dem Stück?
Obwohl ich das vor Probenbeginn dachte - "100 Songs" ist kein Liederabend! Das Stück beschreibt die letzten vier Minuten unterschiedlichster Menschen, kurz bevor sie ihr Leben bei einer Zugexplosion verlieren. Der Text des Autors Roland Schimmelpfennig springt in dieser kurzen Zeitspanne immer wieder vor und zurück - so setzen sich, wie bei einem Puzzle, nach und nach einzelne Teile von Biografien und Figuren zusammen. Manche kehren immer wieder, andere tauchen nur einmal auf und dann nie wieder. All diese Menschen, die nichts miteinander zu tun haben, verbindet nur dieser eine Moment (im Stück heisst es "diese Menschen haben nichts gemeinsam, und diese Menschen haben alles gemeinsam"), bevor sie verschwinden. Das Publikum erfährt ihre Lebenssituation, ihre Gedanken und Sehnsüchte - Das Alltägliche und Banale, aber auch das Besondere, das Schwere und das Leichte, mit dem jeder Mensch sich herumschlagen muss. Und vielleicht auch, welchen Song jede*r einzelne gerade im Ohr gehabt hat...

Was erwartet den Zuschauer in dieser Inszenierung?
Schimmelpfennig hat eine eigene Form des erzählenden Theaters entwickelt, in dem die Erzähler*innen ihre Rollen überschreiten und sich direkt an das Publikum wenden. Sie erzählen von sich selbst und über die anderen. Dabei steht ihnen primär das gesprochene Wort zur Verfügung - denn: Figuren und situative Handlungen entstehen manchmal, verflüchtigen sich aber auch schnell wieder. Der Regisseur und Bühnenbildner Malte Kreutzfeld hat dafür ein imposantes Bühnenbild entwickelt: Den Hintergrund der Bühne dominiert eine riesige kaleidoskopartige, bewegliche Spiegelwand, in der sowohl wir neun Schauspieler*innen als auch das Publikum zu sehen sind und die nochmal eine ganz andere Perspektive auf das Geschehen eröffnet - das Bildgeschehen wird also ein wichtiges Hauptelement der Inszenierung sein.

Warum sollte man sich dieses Stück unbedingt anschauen?
Die Stimmführung der Figuren mutet wie eine musikalische Komposition an und macht den Theaterabend zu einem poetischen Sprachkonzert, leicht und doch tiefgründig. Es geht um die Zufälligkeit des Opferwerdens, um die Lotterie des Lebens, traurig und komisch zugleich, sowie um die Einsicht, wie kostbar jeder einzelne Lebensmoment ist - eine Tatsache, die man im Alltag so oft vergisst.

Was ist ihr Lieblingsmoment in dem Stück?
Es gibt einen besonderen musikalischen Moment auf den ich mich besonders freue, den verrate ich aber noch nicht.

Welche Rolle spielen Sie und was ist dabei die Herausforderung?
Da das Stück über weite Strecken narrativ funktioniert, habe ich gar nicht die eine Rolle, auf die ich mich konzentrieren könnte. Es schält sich über den Verlauf der Handlung langsam heraus, dass ich zunehmend die Sätze eines jungen Studenten übernehme, dessen Beziehung gerade in Frage gestellt wird - insgesamt aber bleiben wir als Akteur*innen (fast alle!) nie eindeutig zuzuordnen. Damit einhergehend, wird das dann wohl auch die größte Herausforderung werden - die Konzentration als Gruppe zu bewahren, eine Geschichte gemeinsam zu erzählen, im Timing knackig und mit Lust am Spiel.

(erschienen in: Märkische Allgemeine, 12.01.2024)
Malte Kreutzfeldt Foto: Paula Harres

Das Leben in Scherben

100 Songs ist kein Liederabend. Regisseur Malte Kreutzfeldt macht aus dem Text von Roland Schimmelpfennig ein Sprachkonzert über die Kostbarkeit des Lebens.
Der Tod. Im Idealfall dauert es viele Jahre, bis man ihm begegnet, aber irgendwann ist es immer soweit. Was wäre, wenn diese Begegnung ganz plötzlich geschieht, ohne Vorwarnung? Wie würde die eigene Lebensbilanz ausfallen? Und wäre sie dann überhaupt noch wichtig? All diese Fragen stellt Roland Schimmelpfennigs Stück „100 Songs“, das am 19. Januar in der Regie von Malte Kreutzfeldt im Großen Haus Premiere hatte.

„Es ist eine Anregung darüber nachzudenken, wie wir das Leben miteinander gestalten wollen“, sagt der 1969 in Lübeck geborene Regisseur, der in diesem Jahr sein 25-jähriges Bühnenjubiläum feiert. „Vor allem, wie wir Beziehungen gestalten wollen, erzählt es ungewöhnlich und meisterhaft.“ Dabei stehen die Figuren des Stückes in gar keiner Beziehung zueinander. Das Einzige, was sie verbindet, ist eine Reise, zu der es nie kommt. Weil kurz vor nach der Abfahrt der Zug explodiert – und mit ihm all die Menschen in unmittelbarer Umgebung. Bis auf die Kellnerin Sally, die im Bahnhofscafé arbeitet, bleiben sie alle namenlos – eine Hauptrolle ist sie trotzdem nicht. „Das Ensemble ist die Hauptrolle“, sagt Malte Kreutzfeldt. Und alle Figuren sind Erzählende.

Sie kreisen immer wieder um die letzten Minuten vor dem Zugunglück, sind gefangen in einer Zeitschleife, die sich nicht unbedingt an eine logische Chronologie hält. „Die Sätze sind wie Scherben, wie einzelne Bruchstücke, verwirbelte Erinnerungen an das Leben“, so Kreutzfeldt. Ein Motiv, das sich durch den Abend zieht.

Etwa in der Musik, die sich in diese zersplitterte Zeitschleife einfügt. Anders als der Titel „100 Songs“ erwarten lässt, dominiert sie den Abend nicht, sondern steht eher als emotionale Stütze hinter den Figuren. So wird beispielsweise „Creep“ von Radiohead immer wieder zu hören sein. „Zu dem Song hat jeder eine Emotion, egal ob alt oder jung“, sagt Kreutzfeldt. „Er vermittelt eine Form von Melancholie, Einsamkeit, aber auch Empathie.“

Auch das Bühnenbild, das Malte Kreutzfeldt ebenfalls entworfen hat, bezieht sich auf das Bruchstückhafte des Textes: Eine große kaleidoskopartige Wand mit 24 einzelnen, in verschiedene Richtungen umklappbaren Spiegeln steht dabei im Zentrum – und spiegelt sowohl das Publikum als auch die neun Schauspielenden auf der Bühne. In den splitterhaften Charakter des Textes und all die Möglichkeiten, die er bietet, hat sich Kreutzfeldt nach anfänglichen Zweifeln regelrecht eingegraben. „Wir hoffen immer, dass wir etwas Neues entdecken, deshalb ist der Text ein Geschenk.“ Zwar seien die Geschichten, die Schimmelpfennig erzählt, nicht grundsätzlich neu, böten aber eine Fülle von berührenden Denkanstößen.

Auch für den Regisseur selbst: Seit einigen Jahren ist ihm die Kostbarkeit von Beziehungen zu anderen Menschen viel bewusster geworden, wie er sagt. „Mir ist es wichtig, dass die Begegnungen, die ich hatte, für die verbleibende Nachwelt gute Begegnungen waren. Auch wenn natürlich immer ein paar offene Fäden bleiben werden.“ Auch das steckt in dem Stück: Unabgeschlossenes zu akzeptieren, Ratlosigkeit zu benennen und die gegebene Zeit bunt zu gestalten. „Ich persönlich möchte in meinem Leben gar nicht alles abschließen, sondern es so leben, als wäre jeder Tag der erste.“ Sarah Kugler

Erschienen in: ZUGABE 01-2024

WEITERFÜHRENDE LINKS

Wenn Sie in das Lieblingslied der Kellnerin Sally, Creep von Radiohead, hineinhören möchten, können Sie das hier tun:
Creep gehört zu den meistgehörten und meistgecoverten Liedern der Welt. Eine mögliche Übersetzung finden Sie hier:
Und etwas mehr zur Geschichte des Liedes finden sie hier: