WIE WILDWUCHS …

... findet man sie dort, wohin sich keine Menschenseele verirrt und sie sich Raum erobern können: Die Figuren in „Concord Floral“ treffen sich am liebsten im verfallenen Gewächshaus am Stadtrand. Ein Ort voll urbaner Mythen, widerständig in seiner Nutzlosigkeit. Doch etwas ist hier passiert, vor nicht allzu langer Zeit. Aus diesem mysteriösen Grundrauschen schält sich eine Geschichte über Mobbing, die Folgen kollektiven Schweigens und die Identitätssuche einer jungen Generation.

„Concord Floral“ entstand als Stückentwicklung mit Jugendlichen aus Toronto, deren persönliche Erfahrungen Jordan Tannahill mit seinem eigenen Aufwachsen in der Kleinstadt sowie fiktiven Erlebnissen verwob. Die Figuren bleiben daher Fragmente, mit ganz unterschiedlichen skurrilen und berührenden Geschichten, deren Puls in den Leerstellen weiterschlägt. Und wie im „Dekameron“, der berühmten Novellensammlung von Giovanni Boccaccio aus dem 14. Jahrhundert, die Tannahill als Inspiration diente, erzählen die Geschichten vor allem über den Zustand der Welt, in der die Heranwachsenden ihren Platz finden müssen.

Vielleicht auch, weil diese Welt immer fragiler erscheint, sind die emotionalen Ausschläge hoch und der Spagat zwischen innerer Überzeugung und Gruppenzugehörigkeit enorm. Der moralische Kompass schwankt. Es ist einfach, die Pubertät als hormonelle Achterbahn zu begreifen, und schwer, das gesellschaftliche Bild der hedonistischen Null-Bock- Jugend zu aktualisieren. Umso härter prallen die Generationen aufeinander, vermischen sich radikale Unbedingtheit mit einer ungewissen Zukunft und Resignation. Die Wut der Figuren kann jugendlicher Impuls zur Provokation, zur „Selbstfindung“ sein. Sie kann aber auch die Frage aufwerfen: Wie produktiv ist der Weg der Mitte, der ständige Kompromiss?

Über die Zeit, in der Peergroups viel und die Meinung der Eltern sehr wenig bedeuten, lässt sich vor allem eins sagen: Sie ist voller Widersprüche. Und wie auch nicht? Neuere Forschungen haben herausgefunden, dass das Gehirn nicht – wie früher angenommen – in der Kindheit ausreift, sondern dass es sich zwischen 13 und 25 Jahren in einer radikalen Umbauphase befindet. Einige Teile des Gehirns arbeiten wie bei Erwachsenen, andere bilden sich neu aus – und zwar diejenigen, die für Emotionen und Impulskontrolle zuständig sind. Das sogenannte „Teen Brain“ ist daher auch besonders bereit, intensive eigene Erfahrungen zu machen. Überlieferung, Bildung, Lebenserfahrung – alles uninteressant angesichts der Gefühle, die erlebt werden können, wenn man sich ihnen bewusst aussetzt.

Die Teenager in „Concord Floral“ werden hin- und hergeworfen zwischen Geltungssucht und Verlorenheit, wechselnder Gruppendynamik und ihrer Täter*innenschaft, die sie alle eint. Die Angst, in einer Mobbing-Situation selbst zur Zielscheibe zu werden, ist ein wesentlicher Motor ihres Handelns. Möglicherweise macht das den Übergang vom Gedanken zur Tat so leicht. Wer das Mobbing-Opfer ist, wird daher direkt auf der Bühne entschieden, in jeder Vorstellung neu. Bestimmt durch Machtfragen, Willkür, Zufall – genauso wie im echten Leben.

Sina Katharina Flubacher

WEITERFÜHRENDE LINKS

Gruppendynamik und Mobbing – wie erspielt man sich diese Themen? Ein Einblick in die Probenarbeit mit dem mehrsprachigen Ensemble der Filmuni Babelsberg:
Die Pubertät als hormonelle Achterbahn zu begreifen ist einfach. Neuere Forschungen weisen jedoch nach, dass sich das jugendliche Gehirn in einer radikalen Umbauphase befindet, die die Lust auf Grenz- und Extremerfahrungen begünstigt: das Phänomen „Teen Brain“.
„Das Dekameron“ von Boccaccio war ein Meilenstein in Richtung Moderne. Sexuelle Inhalte, weibliche selbstbestimmte Lust, Menschen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und zwischenmenschliche Beziehungen, die nicht durch Religion geprägt sind – eine explosive Mischung im ausgehenden, von der Pest gebeutelten Mittelalter.