Darf man über Hitler lachen?
Regisseur Tobias Rott über die Nazi-Komödie "Die Zeit ist aus den Fugen", die auf dem berühmten Film „Sein oder Nichtsein“ von Ernst Lubitsch von 1942 basiert
Die Bühnenbearbeitung des Filmklassikers „Sein oder Nichtsein“ von Ernst Lubitsch erlebt im Januar unter dem Titel „Die Zeit ist aus den Fugen“ ihre Premiere im Hans Otto Theater. Darin wird eine polnische Schauspieltruppe 1939 zur unfreiwilligen Keimzelle des Widerstands gegen die deutschen Besatzer und kämpft mit ihren ganz eigenen Mitteln für die Freiheit. Im Nu wimmelt es von echten und falschen Agenten, künstlichen Bärten, und ein gewagtes Spiel um „Sein oder Nichtsein“ beginnt – eine rasante Komödie und zugleich eine Liebeserklärung an das Theater. Regisseur Tobias Rott sprach mit der ZUGABE über die Proben und das Lachen.
Tobias, vor zwei Jahren hast du mitten in der Pandemie angefangen, das Stück zu proben, nach kurzer Zeit kam ein Lockdown. Hat sich dein Blick auf den Stoff verändert?
Tobias Rott: Erstaunlicherweise nicht. Ich habe ein bisschen damit gerechnet, aber das Stück ist auf seine Art sehr zeitlos.
Wie ging es dir mit der filmischen Vorlage von Lubitsch? Ist das eher Inspiration oder ein Hindernis?
Rott: Ich versuche immer, mich möglichst von Vorlagen freizuhalten, um aus dem Text heraus meine eigenen Gedanken und Ideen zu entwickeln. Aber natürlich habe ich den Film geguckt, weil es irgendwie vermessen wäre, ihn in diesem Kontext nicht anzuschauen. Ich weiß gar nicht, ob ich den sogenannten Lubitsch Touch wirklich verstanden habe, aber für mich geht er mit einer gewissen Leichtigkeit und dem Vertrauen in die Vorstellungskraft einher. Und das habe ich schon im Hinterkopf, weil ich es wahnsinnig sympathisch finde. Ob man das dann auch auf der Bühne so sieht, kann ich im Moment aber nur hoffen. (lacht)
Und was war der erste Impuls beim Genre „Nazi-Komödie“?
Rott: Ich habe da keine inneren Manschetten. Meiner Meinung nach kann man sehr gut Nazi-Komödien machen. Ich finde, man soll sich sogar möglichst viel über Nazis lustig machen, um den Dampf und die Angst da rauszukriegen und um zu erreichen, dass diese Ideologie unter keinen Umständen jemals wieder ernstgenommen werden kann.
Das Lachen über Hitler ist ein umstrittenes Thema, denn es schwingen viele Fragen mit: Verharmlost man damit die NS-Verbrechen, ist den Opfern gegenüber moralisch vertretbar, nehmen spätere Generationen die Erinnerungskultur noch ernst genug? Charlie Chaplin hat bezweifelt, dass er seinen Film „Der große Diktator“ genauso gedreht hätte, wäre er damals über die Ausmaße des Holocaust informiert gewesen. Lubitsch wiederum hat sein Werk verteidigt und auf der Freiheit der Kunst beharrt. Darf Satire alles?
Rott: Das ist eine schwierige Diskussion. Prinzipiell darf sie erstmal alles. Aber in dem Moment, wo ich mich als Angehöriger der Mehrheit über eine Minderheit lustig mache, wird es schwierig. Das ist ja gerade auch sehr virulent in der Diskussion darum, wer was oder wen spielen darf, welche Perspektiven vertreten sind usw.
Tobias, vor zwei Jahren hast du mitten in der Pandemie angefangen, das Stück zu proben, nach kurzer Zeit kam ein Lockdown. Hat sich dein Blick auf den Stoff verändert?
Tobias Rott: Erstaunlicherweise nicht. Ich habe ein bisschen damit gerechnet, aber das Stück ist auf seine Art sehr zeitlos.
Wie ging es dir mit der filmischen Vorlage von Lubitsch? Ist das eher Inspiration oder ein Hindernis?
Rott: Ich versuche immer, mich möglichst von Vorlagen freizuhalten, um aus dem Text heraus meine eigenen Gedanken und Ideen zu entwickeln. Aber natürlich habe ich den Film geguckt, weil es irgendwie vermessen wäre, ihn in diesem Kontext nicht anzuschauen. Ich weiß gar nicht, ob ich den sogenannten Lubitsch Touch wirklich verstanden habe, aber für mich geht er mit einer gewissen Leichtigkeit und dem Vertrauen in die Vorstellungskraft einher. Und das habe ich schon im Hinterkopf, weil ich es wahnsinnig sympathisch finde. Ob man das dann auch auf der Bühne so sieht, kann ich im Moment aber nur hoffen. (lacht)
Und was war der erste Impuls beim Genre „Nazi-Komödie“?
Rott: Ich habe da keine inneren Manschetten. Meiner Meinung nach kann man sehr gut Nazi-Komödien machen. Ich finde, man soll sich sogar möglichst viel über Nazis lustig machen, um den Dampf und die Angst da rauszukriegen und um zu erreichen, dass diese Ideologie unter keinen Umständen jemals wieder ernstgenommen werden kann.
Das Lachen über Hitler ist ein umstrittenes Thema, denn es schwingen viele Fragen mit: Verharmlost man damit die NS-Verbrechen, ist den Opfern gegenüber moralisch vertretbar, nehmen spätere Generationen die Erinnerungskultur noch ernst genug? Charlie Chaplin hat bezweifelt, dass er seinen Film „Der große Diktator“ genauso gedreht hätte, wäre er damals über die Ausmaße des Holocaust informiert gewesen. Lubitsch wiederum hat sein Werk verteidigt und auf der Freiheit der Kunst beharrt. Darf Satire alles?
Rott: Das ist eine schwierige Diskussion. Prinzipiell darf sie erstmal alles. Aber in dem Moment, wo ich mich als Angehöriger der Mehrheit über eine Minderheit lustig mache, wird es schwierig. Das ist ja gerade auch sehr virulent in der Diskussion darum, wer was oder wen spielen darf, welche Perspektiven vertreten sind usw.
Das Lustigmachen über Minderheiten steht natürlich, gerade mit Blick auf die Nazi-Zeit, auf einem anderen politischen Boden. Im Vordergrund der Nazi-Komödie steht meist das Lustigmachen über die Nazis selbst.
Rott: Absolut. Und gerade weil diese Geschichte über die Generationen hinweg auf unseren Schultern lastet, ist es wichtig, sich durch Lachen davon immer wieder kurzzeitig zu befreien. Wenn man lachen kann, dann ist man nicht gelähmt und kann sich auch aufmachen und handeln. Und das ist sowieso das Beste, was man tun kann.
Wissenschaftler*innen sprechen davon, dass erst die geschichtliche Distanz das Lachen über Hitler ermöglicht, sonst würde man in Schreckstarre verfallen. Ich denke, das Lachen ist auch immer ein Versuch, das Monströse zu bannen – in diesem Fall vielleicht auch durch den Reiz des Tabubruchs.
Rott: Ich glaube ja, eine der Hauptmotivationen für Lachen ist Schadenfreude.
… auch ein Tabubruch …
Rott: Lustigerweise kam neulich „Dick und Doof“ im Fernsehen. Ich war immer ein großer Fan und habe sie als Idealbeispiel für gutes Komödienspiel abgespeichert, weil sie immer mit absoluter Humorlosigkeit und mit großem Ernst agieren. Da läuft jemand gegen einen Laternenpfosten, und es tut ihm wirklich weh, ohne dass er es witzig spielt. Das ist für mich sehr lustig.
Entscheidend dabei ist für mich, dass ich schon sehe, er läuft gleich gegen den Pfosten und tut es dann auch wirklich. Genauso verhält es sich bei den Figuren im Stück: Da kann ich mich köstlich amüsieren, weil ich im Publikum oft mehr weiß als die Figuren selbst und ihnen dabei zusehe, wie sie von einer Stolperfalle in die nächste geraten.
Rott: Eben, und das tun sie ja mit einer großen Not, jede*r für sich. Ich lache tatsächlich auch relativ viel über die anderen Figuren, nicht nur über die Nazis. Aber über diese eben genau deshalb, weil sie meinen, sie hätten „die Weisheit mit Löffeln gefressen“ – und dann damit aber nicht durchkommen. Denn sie stoßen auf Widerstand und geraten in große Nöte. Das verschafft Genugtuung und freut mich sehr beim Zuschauen.
Der wesentliche Punkt dieser Freude ist also das Scheitern und dass diese furchtbare Überheblichkeit bröckelt. Deshalb geht es auch nicht darum, tumbe Nazis auf der Bühne zu zeigen, die man per se als Witzfiguren empfindet.
Rott: Genau daran arbeiten wir gerade, dass das eben keine Karikaturen werden, sondern glaubhafte Figuren, die man als Publikum nachvollziehen kann. Und die dann sehr komisch gegen die Wand laufen.
Die Nazi-Figuren haben ja durchaus historische Entsprechungen, mit denen der Autor Jürgen Hofmann immer wieder jongliert: Mal hat eine Figur einen historischen Namen, mal wird mit der Verballhornung eines überlieferten Spitznamens gespielt. Wie beeinflusst das die Figurenarbeit?
Rott: Das müssen die Schauspieler*innen für sich entscheiden, wie tief sie da reingehen möchten. Prinzipiell ist es natürlich immer wichtig zu wissen, auf welchem Boden man sich bewegt. Am Ende stellt sich meiner Erfahrung nach beim Spielen aber immer die Frage: Was heißt das für mich heute, was in dieser konkreten Situation? Zusammengedacht mit einem geschichtlichen Kontext, ergibt das für mich etwas sehr Heutiges, weil wir eben aus unserer jetzigen Warte auf eine Geschichte oder einen Stoff schauen. Mein Bestreben ist immer, die Brücke in die Gegenwart zu schlagen, ohne dass deshalb alle in pinken Nazi-Kostümen rumlaufen müssen.
Was ist für dich das Zeitlose an diesem Stück?
Rott: Die Geschichte von diesem kleinen Häufchen Individuen, die sich nicht so besonders gut leiden können, die den anderen Dinge neiden und sich gegenseitig nicht über den Weg trauen – und die sich genau aus diesem Grundsetting zusammenraufen müssen, um gemeinsam etwas hinzukriegen. Das finde ich wahnsinnig toll, und davon können wir uns für heute durchaus eine Scheibe abschneiden. Zusammenstehen, um eine Pandemie durchzuhalten, eine Energiekrise, einen Krieg und alles, was da noch kommen wird, von dem wir denken, das kann doch gar nicht sein im Jahr 2022 oder 2023.
Du bist vor dem Probenbeginn 2020 nach Poznań gefahren, wo das Stück spielt. Welche Eindrücke hast du von dort mitgebracht?
Rott: Zuallererst einmal die Erkenntnis, wie wenig Bezug ich vorher hatte, obwohl ich seit 20 Jahren in Berlin wohne und Polen unser unmittelbares Nachbarland ist. Wir waren im Teatr Polski, und es war interessant zu erfahren, dass es das Polnische Theater in Poznań sowieso erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gibt – davor war es deutschsprachig. Polen ist ja permanent zerrieben worden zwischen irgendwelchen Großmächten oder existierte offiziell jahrhundertelang einfach nicht. Diese unglaubliche Landesgeschichte war mir vorher nicht so geläufig.
Die Unterdrückung der polnischen Sprache und Kultur hatte während der NS-Besatzung vermutlich auch ihren grausamen Höhepunkt, es wurden furchtbare Verbrechen an der polnischen Bevölkerung verübt. Mein Eindruck ist, dass sich die deutsche Erinnerungskultur damit bis heute schwer tut. Interessant sind auch die Unterschiede in der Geschichtsschreibung. Es gibt immer noch viele Mythen um den Kriegsbeginn, die historisch widerlegt wurden. Und in deutschen Geschichtsbüchern gibt es z. B. immer noch ein Datum der polnischen Kapitulation im Oktober 1939, während Polen darauf besteht, niemals kapituliert zu haben, weil die Regierung komplett in den Untergrund gegangen ist.
Rott: In meiner Wahrnehmung ist es skandalös, wie die deutsche Haltung gegenüber Polen bis heute ist. Schon im Kleinen. Zum Beispiel fahren Künstler*innen aus Poznań häufiger nach Berlin, um sich dort Theater anzuschauen, während wir deutschen Theaterschaffenden – zumindest während meiner Zeit als Schauspieler – bei Gastspielen in Frankfurt an der Oder vor allem für Essen und billige Zigaretten über die Grenze gehen. Das ist ganz schön borniert. Und auch die Polinnen, die hierher kommen, um unsere Alten zu pflegen und unsere Haushalte zu putzen: Was wäre, wenn die sagen würden: Habt ihr eigentlich noch alle Tassen im Schrank? Ich putze bei euch gar nichts.
Das ist doch eigentlich ein Wunder.
Und welcher Eindruck von der Reise war am nachhaltigsten?
Rott: Diese Stimmung, als wir durch die Stadt gelaufen sind. Dass das eben Europa ist und wenn man vor dem Krieg gucken würde, wie multikulturell das mal war, die Architektur, dann könnte man auch in Wien sein. Also eigentlich genau dieses Gefühl, dass „das Fremde“ eigentlich ganz nah bei uns selbst ist. Und dass wir uns daran erinnern müssen, ist eine der unfassbaren Auswirkungen eines solchen Weltkriegs.
Interview: Sina Katharina Flubacher (erschienen in Zugabe 01-2023)
Rott: Absolut. Und gerade weil diese Geschichte über die Generationen hinweg auf unseren Schultern lastet, ist es wichtig, sich durch Lachen davon immer wieder kurzzeitig zu befreien. Wenn man lachen kann, dann ist man nicht gelähmt und kann sich auch aufmachen und handeln. Und das ist sowieso das Beste, was man tun kann.
Wissenschaftler*innen sprechen davon, dass erst die geschichtliche Distanz das Lachen über Hitler ermöglicht, sonst würde man in Schreckstarre verfallen. Ich denke, das Lachen ist auch immer ein Versuch, das Monströse zu bannen – in diesem Fall vielleicht auch durch den Reiz des Tabubruchs.
Rott: Ich glaube ja, eine der Hauptmotivationen für Lachen ist Schadenfreude.
… auch ein Tabubruch …
Rott: Lustigerweise kam neulich „Dick und Doof“ im Fernsehen. Ich war immer ein großer Fan und habe sie als Idealbeispiel für gutes Komödienspiel abgespeichert, weil sie immer mit absoluter Humorlosigkeit und mit großem Ernst agieren. Da läuft jemand gegen einen Laternenpfosten, und es tut ihm wirklich weh, ohne dass er es witzig spielt. Das ist für mich sehr lustig.
Entscheidend dabei ist für mich, dass ich schon sehe, er läuft gleich gegen den Pfosten und tut es dann auch wirklich. Genauso verhält es sich bei den Figuren im Stück: Da kann ich mich köstlich amüsieren, weil ich im Publikum oft mehr weiß als die Figuren selbst und ihnen dabei zusehe, wie sie von einer Stolperfalle in die nächste geraten.
Rott: Eben, und das tun sie ja mit einer großen Not, jede*r für sich. Ich lache tatsächlich auch relativ viel über die anderen Figuren, nicht nur über die Nazis. Aber über diese eben genau deshalb, weil sie meinen, sie hätten „die Weisheit mit Löffeln gefressen“ – und dann damit aber nicht durchkommen. Denn sie stoßen auf Widerstand und geraten in große Nöte. Das verschafft Genugtuung und freut mich sehr beim Zuschauen.
Der wesentliche Punkt dieser Freude ist also das Scheitern und dass diese furchtbare Überheblichkeit bröckelt. Deshalb geht es auch nicht darum, tumbe Nazis auf der Bühne zu zeigen, die man per se als Witzfiguren empfindet.
Rott: Genau daran arbeiten wir gerade, dass das eben keine Karikaturen werden, sondern glaubhafte Figuren, die man als Publikum nachvollziehen kann. Und die dann sehr komisch gegen die Wand laufen.
Die Nazi-Figuren haben ja durchaus historische Entsprechungen, mit denen der Autor Jürgen Hofmann immer wieder jongliert: Mal hat eine Figur einen historischen Namen, mal wird mit der Verballhornung eines überlieferten Spitznamens gespielt. Wie beeinflusst das die Figurenarbeit?
Rott: Das müssen die Schauspieler*innen für sich entscheiden, wie tief sie da reingehen möchten. Prinzipiell ist es natürlich immer wichtig zu wissen, auf welchem Boden man sich bewegt. Am Ende stellt sich meiner Erfahrung nach beim Spielen aber immer die Frage: Was heißt das für mich heute, was in dieser konkreten Situation? Zusammengedacht mit einem geschichtlichen Kontext, ergibt das für mich etwas sehr Heutiges, weil wir eben aus unserer jetzigen Warte auf eine Geschichte oder einen Stoff schauen. Mein Bestreben ist immer, die Brücke in die Gegenwart zu schlagen, ohne dass deshalb alle in pinken Nazi-Kostümen rumlaufen müssen.
Was ist für dich das Zeitlose an diesem Stück?
Rott: Die Geschichte von diesem kleinen Häufchen Individuen, die sich nicht so besonders gut leiden können, die den anderen Dinge neiden und sich gegenseitig nicht über den Weg trauen – und die sich genau aus diesem Grundsetting zusammenraufen müssen, um gemeinsam etwas hinzukriegen. Das finde ich wahnsinnig toll, und davon können wir uns für heute durchaus eine Scheibe abschneiden. Zusammenstehen, um eine Pandemie durchzuhalten, eine Energiekrise, einen Krieg und alles, was da noch kommen wird, von dem wir denken, das kann doch gar nicht sein im Jahr 2022 oder 2023.
Du bist vor dem Probenbeginn 2020 nach Poznań gefahren, wo das Stück spielt. Welche Eindrücke hast du von dort mitgebracht?
Rott: Zuallererst einmal die Erkenntnis, wie wenig Bezug ich vorher hatte, obwohl ich seit 20 Jahren in Berlin wohne und Polen unser unmittelbares Nachbarland ist. Wir waren im Teatr Polski, und es war interessant zu erfahren, dass es das Polnische Theater in Poznań sowieso erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gibt – davor war es deutschsprachig. Polen ist ja permanent zerrieben worden zwischen irgendwelchen Großmächten oder existierte offiziell jahrhundertelang einfach nicht. Diese unglaubliche Landesgeschichte war mir vorher nicht so geläufig.
Die Unterdrückung der polnischen Sprache und Kultur hatte während der NS-Besatzung vermutlich auch ihren grausamen Höhepunkt, es wurden furchtbare Verbrechen an der polnischen Bevölkerung verübt. Mein Eindruck ist, dass sich die deutsche Erinnerungskultur damit bis heute schwer tut. Interessant sind auch die Unterschiede in der Geschichtsschreibung. Es gibt immer noch viele Mythen um den Kriegsbeginn, die historisch widerlegt wurden. Und in deutschen Geschichtsbüchern gibt es z. B. immer noch ein Datum der polnischen Kapitulation im Oktober 1939, während Polen darauf besteht, niemals kapituliert zu haben, weil die Regierung komplett in den Untergrund gegangen ist.
Rott: In meiner Wahrnehmung ist es skandalös, wie die deutsche Haltung gegenüber Polen bis heute ist. Schon im Kleinen. Zum Beispiel fahren Künstler*innen aus Poznań häufiger nach Berlin, um sich dort Theater anzuschauen, während wir deutschen Theaterschaffenden – zumindest während meiner Zeit als Schauspieler – bei Gastspielen in Frankfurt an der Oder vor allem für Essen und billige Zigaretten über die Grenze gehen. Das ist ganz schön borniert. Und auch die Polinnen, die hierher kommen, um unsere Alten zu pflegen und unsere Haushalte zu putzen: Was wäre, wenn die sagen würden: Habt ihr eigentlich noch alle Tassen im Schrank? Ich putze bei euch gar nichts.
Das ist doch eigentlich ein Wunder.
Und welcher Eindruck von der Reise war am nachhaltigsten?
Rott: Diese Stimmung, als wir durch die Stadt gelaufen sind. Dass das eben Europa ist und wenn man vor dem Krieg gucken würde, wie multikulturell das mal war, die Architektur, dann könnte man auch in Wien sein. Also eigentlich genau dieses Gefühl, dass „das Fremde“ eigentlich ganz nah bei uns selbst ist. Und dass wir uns daran erinnern müssen, ist eine der unfassbaren Auswirkungen eines solchen Weltkriegs.
Interview: Sina Katharina Flubacher (erschienen in Zugabe 01-2023)
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