Ringen um die Wahrheit
Ein Suchender, der viel nachdenkt: Jan Hallmann spielt die Hauptrolle in "Das Fest".
Die Sonne strahlt über dem Tiefen See, aber es weht ein kalter Wind. Und so wird das Interview in die wärmere Kantine verlegt. Kaum am Platz, sieht Jan Hallmann seine Gesprächspartnerin erwartungsvoll an. Seine Augen sind braun, mit einem leichten Grünstich und hellwach. Hallmann, 1986 in Tübingen geboren, macht nicht viel Aufhebens um seine Person. Seit fünf Jahren gehört er zum Ensemble des Hans Otto Theaters und stand in vielen Inszenierungen auf der Bühne. Egal, ob kleine oder große Rolle – immer hat er sich mit voller Kraft in sie hineinbegeben. Ruhig, fast bescheiden könnte man ihn nennen. Ein Suchender, der viel nachdenkt und den seine gespielten Figuren auch nach der Probe noch begleiten.
Als Familienvater gehört die Zeit, die er nicht im Theater verbringt, seiner Frau und den beiden Kindern. Morgens bringt er Alba in die Schule und Josa in die Kita, holt sie am Nachmittag wieder ab und unternimmt etwas mit ihnen. Ein richtiger Familienmensch ist er und lacht, als er erzählt, dass das nicht immer so gewesen sei. Früher hat er alles seinem Beruf untergeordnet und konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass es daneben noch eine andere Erfüllung geben könnte. Doch genau diese hat er in seiner Familie gefunden. Geborgenheit und Liebe sind die Stichworte, die er unter anderem mit ihr verbindet.
Das unterscheidet ihn von Christian, der Figur, die er gerade in Bettina Jahnkes Inszenierung von „Das Fest“ nach dem Film von Thomas Vinterberg verkörpert. Christians Familie funktioniert über Machtstrukturen, die der Vater Helge als Patriarch aufrechterhält. Autorität ist kein Begriff, den Jan Hallmann mit Erziehung in Verbindung bringen möchte. Das Vatersein gibt ihm die Einsicht, sich selbst in seinen Bedürfnissen zurückzunehmen und von den Kindern zu lernen. „Ich muss akzeptieren, dass mir meine Kinder nichts schuldig sind und ich nicht alles besser weiß.“ Eine Offenheit, die seiner Figur von den Eltern nicht entgegengebracht wird: Als Christian am 60. Geburtstag des Vaters in einer Rede seine Sicht auf die Kindheit sowie die vermeintlich glückliche Familie offenlegt und ein lang gehütetes Geheimnis lüftet, schlägt ihm nur Verachtung entgegen. Der unliebsame Nestbeschmutzer wird ausgegrenzt. Helge vermittelt ihm das Gefühl, wertlos zu sein.
Genau daran versucht der sympathische 37-Jährige anzudocken. Christian ist ein innerlich zerrissener Mensch, der um die Wahrheit ringt und es dennoch schafft, sich dem Übervater entgegenzustellen. Dabei ist er immer angespannt und auf der Hut, steht steif da und scheint im eigenen Körper gefangen zu sein. Das ist eine neue körperliche Erfahrung für Jan Hallmann, der es liebt, über die Bühne zu toben und seine Figuren agil anzulegen – so wie den Major in „Woyzeck“, eine Rolle, in der der musikalische Schauspieler ebenfalls derzeit zu sehen ist. Auf die Frage, was ihm wichtig im Leben sei, antwortet er nach kurzem Überlegen: „Ehrlichkeit mit mir selbst“. Sich selbst treu zu sein, ist die maximale Selbstheilung, die auch Christian widerfährt. Letzte Frage, gibt es eine Traumrolle? Jan Hallmann lacht: „Peer Gynt – ebenfalls ein Suchender, der aber erst lernen muss, ehrlich mit sich selbst zu sein.“
Alexandra Engelmann
erschienen in ZUGABE 02-2023
Als Familienvater gehört die Zeit, die er nicht im Theater verbringt, seiner Frau und den beiden Kindern. Morgens bringt er Alba in die Schule und Josa in die Kita, holt sie am Nachmittag wieder ab und unternimmt etwas mit ihnen. Ein richtiger Familienmensch ist er und lacht, als er erzählt, dass das nicht immer so gewesen sei. Früher hat er alles seinem Beruf untergeordnet und konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass es daneben noch eine andere Erfüllung geben könnte. Doch genau diese hat er in seiner Familie gefunden. Geborgenheit und Liebe sind die Stichworte, die er unter anderem mit ihr verbindet.
Das unterscheidet ihn von Christian, der Figur, die er gerade in Bettina Jahnkes Inszenierung von „Das Fest“ nach dem Film von Thomas Vinterberg verkörpert. Christians Familie funktioniert über Machtstrukturen, die der Vater Helge als Patriarch aufrechterhält. Autorität ist kein Begriff, den Jan Hallmann mit Erziehung in Verbindung bringen möchte. Das Vatersein gibt ihm die Einsicht, sich selbst in seinen Bedürfnissen zurückzunehmen und von den Kindern zu lernen. „Ich muss akzeptieren, dass mir meine Kinder nichts schuldig sind und ich nicht alles besser weiß.“ Eine Offenheit, die seiner Figur von den Eltern nicht entgegengebracht wird: Als Christian am 60. Geburtstag des Vaters in einer Rede seine Sicht auf die Kindheit sowie die vermeintlich glückliche Familie offenlegt und ein lang gehütetes Geheimnis lüftet, schlägt ihm nur Verachtung entgegen. Der unliebsame Nestbeschmutzer wird ausgegrenzt. Helge vermittelt ihm das Gefühl, wertlos zu sein.
Genau daran versucht der sympathische 37-Jährige anzudocken. Christian ist ein innerlich zerrissener Mensch, der um die Wahrheit ringt und es dennoch schafft, sich dem Übervater entgegenzustellen. Dabei ist er immer angespannt und auf der Hut, steht steif da und scheint im eigenen Körper gefangen zu sein. Das ist eine neue körperliche Erfahrung für Jan Hallmann, der es liebt, über die Bühne zu toben und seine Figuren agil anzulegen – so wie den Major in „Woyzeck“, eine Rolle, in der der musikalische Schauspieler ebenfalls derzeit zu sehen ist. Auf die Frage, was ihm wichtig im Leben sei, antwortet er nach kurzem Überlegen: „Ehrlichkeit mit mir selbst“. Sich selbst treu zu sein, ist die maximale Selbstheilung, die auch Christian widerfährt. Letzte Frage, gibt es eine Traumrolle? Jan Hallmann lacht: „Peer Gynt – ebenfalls ein Suchender, der aber erst lernen muss, ehrlich mit sich selbst zu sein.“
Alexandra Engelmann
erschienen in ZUGABE 02-2023
„Die Familie gewinnt immer“ – oder nicht?
Bettina Jahnke im Gespräch
"Das Fest" erzählt davon, wie innerhalb einer Familie die Vergangenheit tabuisiert wird. Wie funktioniert diese Familie?
In dieser Familie geht es nicht um Fürsorge und Wertschätzung. Es gibt keinen Schutzraum, kein Vertrauen: Es herrscht emotionale Verwahrlosung, da das gesamte Werte- und Referenzsystem gestört ist. Helge hat die absolute Macht: Er entscheidet als Patriarch über das Wohl der Familie. Er bestimmt, wer am Familientisch sitzen darf oder wer überhaupt mit wem redet. Helge hat die volle Kontrolle über alles und zusätzlich versichert er sich der Kontrolle über die finanzielle Abhängigkeit seiner Familie. Er bezahlt für ihr Schweigen und ihr Funktionieren.
Alle Familienmitglieder scheinen sich mit diesem Status quo arrangiert zu haben. Wieso bricht Christian nun doch das Schweigen und das ausgerechnet am 60. Geburtstag Helges?
In erster Linie ist der Suizid seiner Schwester Linda der Motor, der Christian antreibt. Er glaubt, sie im Stich gelassen zu haben und fühlt sich ihr gegenüber schuldig, weil er sie nicht retten konnte. Ein zweiter Grund ist, dass der 60. Geburtstag ihm durch die Anwesenheit der gesamten Familie die maximale Öffentlichkeit bietet. Damit schafft Christian sich den Druck, den er braucht, um die Mauer des Schweigens zu durchbrechen und überhaupt ins Reden zu kommen. Das ist eine große Klippe für ihn, über die er springen muss und will.
Worum geht es Christian?
Es geht ihm in erster Linie darum, das Schweigen zu brechen, ohne nachzudenken, was das für Konsequenzen hat. Es geht ihm nicht um eine Heilung oder Wiedergutmachung. Es geht ihm auch nicht um Rache, sondern einzig und alleine darum, es öffentlich zu machen. Es geht um den Akt des Sprechens an sich. Es handelt sich um eine Selbstermächtigung, die er braucht, um bei sich selbst anzukommen und die Zeit des Lügens, sich Verleugnens und der Mitwisserschaft mit dem Täter zu unterbrechen und damit die Beziehung zu ihm zu kappen, die bis dato unausgesprochen über all die Jahre funktioniert hat.
Auch Christians jüngere Geschwister halten das Familiensystem am Laufen, ohne Täter*innen zu sein …
Es gibt die Kultur des Schweigens. Michael und Helene sind zwar nicht Zeug*innen der Tat, aber sie bekommen die Auswirkungen mit. Christian wird als Jugendlicher in die Psychiatrie eingeliefert, als Erwachsener ist er alkoholabhängig. Dadurch, dass sich die Geschwister keine Gedanken darüber gemacht haben, was der Auslöser dessen sein könnte, haben sie die Macht des Vaters unausgesprochen gestützt und sich mitschuldig gemacht. Am Ende solidarisieren sie sich aber mit Christian, und damit ist erstmal der Weg für eine gemeinsame Zukunft gelegt. Die Frage ist nun, wie die Geschwister mit der neuen Situation umgehen, ob sie den Neuanfang wagen. Jetzt haben sie die Chance zu wachsen und zu reifen und sich aus dem Machtsystem des Vaters zu befreien.
Thomas Vinterberg sagte „Die Familie gewinnt immer“. Stimmst du dem zu?
Die Familie gewinnt nur, wenn es der oder dem Einzelnen nicht gelingt, sich von der Familie zu lösen und Verantwortung für das eigene Leben und Handeln zu übernehmen.
Das Gespräch führte Alexandra Engelmann
In dieser Familie geht es nicht um Fürsorge und Wertschätzung. Es gibt keinen Schutzraum, kein Vertrauen: Es herrscht emotionale Verwahrlosung, da das gesamte Werte- und Referenzsystem gestört ist. Helge hat die absolute Macht: Er entscheidet als Patriarch über das Wohl der Familie. Er bestimmt, wer am Familientisch sitzen darf oder wer überhaupt mit wem redet. Helge hat die volle Kontrolle über alles und zusätzlich versichert er sich der Kontrolle über die finanzielle Abhängigkeit seiner Familie. Er bezahlt für ihr Schweigen und ihr Funktionieren.
Alle Familienmitglieder scheinen sich mit diesem Status quo arrangiert zu haben. Wieso bricht Christian nun doch das Schweigen und das ausgerechnet am 60. Geburtstag Helges?
In erster Linie ist der Suizid seiner Schwester Linda der Motor, der Christian antreibt. Er glaubt, sie im Stich gelassen zu haben und fühlt sich ihr gegenüber schuldig, weil er sie nicht retten konnte. Ein zweiter Grund ist, dass der 60. Geburtstag ihm durch die Anwesenheit der gesamten Familie die maximale Öffentlichkeit bietet. Damit schafft Christian sich den Druck, den er braucht, um die Mauer des Schweigens zu durchbrechen und überhaupt ins Reden zu kommen. Das ist eine große Klippe für ihn, über die er springen muss und will.
Worum geht es Christian?
Es geht ihm in erster Linie darum, das Schweigen zu brechen, ohne nachzudenken, was das für Konsequenzen hat. Es geht ihm nicht um eine Heilung oder Wiedergutmachung. Es geht ihm auch nicht um Rache, sondern einzig und alleine darum, es öffentlich zu machen. Es geht um den Akt des Sprechens an sich. Es handelt sich um eine Selbstermächtigung, die er braucht, um bei sich selbst anzukommen und die Zeit des Lügens, sich Verleugnens und der Mitwisserschaft mit dem Täter zu unterbrechen und damit die Beziehung zu ihm zu kappen, die bis dato unausgesprochen über all die Jahre funktioniert hat.
Auch Christians jüngere Geschwister halten das Familiensystem am Laufen, ohne Täter*innen zu sein …
Es gibt die Kultur des Schweigens. Michael und Helene sind zwar nicht Zeug*innen der Tat, aber sie bekommen die Auswirkungen mit. Christian wird als Jugendlicher in die Psychiatrie eingeliefert, als Erwachsener ist er alkoholabhängig. Dadurch, dass sich die Geschwister keine Gedanken darüber gemacht haben, was der Auslöser dessen sein könnte, haben sie die Macht des Vaters unausgesprochen gestützt und sich mitschuldig gemacht. Am Ende solidarisieren sie sich aber mit Christian, und damit ist erstmal der Weg für eine gemeinsame Zukunft gelegt. Die Frage ist nun, wie die Geschwister mit der neuen Situation umgehen, ob sie den Neuanfang wagen. Jetzt haben sie die Chance zu wachsen und zu reifen und sich aus dem Machtsystem des Vaters zu befreien.
Thomas Vinterberg sagte „Die Familie gewinnt immer“. Stimmst du dem zu?
Die Familie gewinnt nur, wenn es der oder dem Einzelnen nicht gelingt, sich von der Familie zu lösen und Verantwortung für das eigene Leben und Handeln zu übernehmen.
Das Gespräch führte Alexandra Engelmann
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„Das Fest“ ist der erste Film einer ganzen Filmserie, die unter bestimmten Voraussetzungen gedreht wurde, die man in einem Regelkatalog zusammenfassen kann. Festgelegt wurden diese Regeln von Thomas Vinterberg und einem anderen bekannten dänischen Regisseur: Lars von Trier. Sie verfassten 1995 das sogenannte DOGMA 95, ein Manifest, welches als Kritik an der zunehmenden Wirklichkeitsentfremdung des Kinos entstand.
Thomas Vinterberg wurde zu seinem Film von einem Mann inspiriert, der im Radio 1996 seine Lebensgeschichte erzählte. Jahre später macht sich eine Journalistin auf die Suche nach diesem Mann und findet Erstaunliches heraus.
Falls Sie nach dem Theaterabend das Original sehen möchten, können Sie den Film hier ansehen.