„Die Klischees lösen sich auf“
Die Potsdamer Schauspieler*innen Kristin Muthwill und Joachim Berger über Ost-West-Unterschiede und die Komödie Wir sind auch nur ein Volk
Biografisch trennen euch beide Welten: Du, Kristin, bist in Magdeburg geboren, hast an der Berliner Hochschule „Ernst Busch“ studiert, in Kassel und Konstanz gearbeitet, während Joachim aus Bayern stammt und bis 2018 keinerlei Osterfahrung hatte. Jetzt prallen eure Biografien in Potsdam aufeinander. Spielt diese unterschiedliche Herkunft eine Rolle?
Joachim Berger: In der Arbeit mit den Kollegen spielt das für mich keine Rolle.
Kristin Muthwill: Das geht mir genauso. Trotzdem lassen sich unsere biografischen Wurzeln nicht leugnen. Das Verständnis von- und füreinander wächst, wenn man um die Sozialisation des anderen weiß, welches System ihn geprägt hat.
Wie würdet ihr eure bisherigen Ost-West-Erfahrungen beschreiben?
Muthwill: 30 Jahre Ost-West-Erfahrung – das ist lang. Und doch nicht vollständig überwunden. Ich komme aus einem Land, das es nicht mehr gibt – welch absurde Identität! Die Ost-West-Problematik wird mich sicher immer beschäftigen. Im menschlichen Miteinander ist der Unterschied kaum noch zu spüren. Als ich Anfang der Neunziger 19-jährig nach Hannover kam, prallten für mich zwei Welten aufeinander. Ich war neugierig, wollte wissen, was an den Vorurteilen dran ist. Klischees kommen nicht von irgendwoher. Trotzdem sind es Klischees. Es hat mich gereizt, das Andere. Seitdem lebte ich abwechselnd in beiden Teilen Deutschlands. Meine besten Freunde kommen aus Ost und West.
Berger: Ich hab 1987 mit einer Kollegin Sommertheater gespielt, die aus der DDR abgehauen war. Was sie mir über den Osten erzählt hat, öffnete mir den Blick in eine komplett andere Gesellschaft. Für die Zwänge, die Nöte, aber auch für das Gute. Als die Mauer fiel, war ich in Kassel engagiert, damals quasi Zonenrandgebiet. Unmittelbar nach dem 9. November war gefühlt der halbe Osten in Kassel. Die Begegnung Ost-West hatte etwas Außerordentliches, Exotisches. Später, in Neuss, mit Bettina Jahnke, einer ost-sozialisierten Intendantin, und Kollegen aus dem Osten war das dann völlig normal geworden.
Wie hast du denn vor deiner Begegnung mit der geflohenen ostdeutschen Schauspielkollegin die DDR wahrgenommen?
Berger: Ich bin zwar in Bayern aufgewachsen, stand aber politisch eher links, hab zum Beispiel für Willy Brandt Wahlkampf gemacht. Da hat man natürlich schon mitbekommen, was drüben los war.
Erschien dir der Sozialismus von Südbayern aus erstrebenswert?
Berger: Ich hab versucht, es so zu sehen, ja! Dabei bin ich in einer Welt groß geworden, in der die DDR so ziemlich das Schlimmste war, das man sich vorstellen konnte. Mein Vater hat wirklich einmal am Mittagstisch zu mir gesagt: „Ich habe Angst, dass du in die DDR gehst!“ Da war ich 16. Dem ging die Muffe, weil ich anders war.
Im Stück „Wir sind auch nur ein Volk“ gehört ihr beide ein- und derselben Familie an.
Berger: Vater und Tochter.
Muthwill: War’n wir ja schon mal – im „Schimmelreiter“. Wir sind schon geübt. (lacht)
Berger: Genetisch kennen wir uns bereits. (beide lachen)
Könnt ihr eure Figuren in dieser deutsch-deutschen Komödie von Jurek Becker – Karl Blauhorn und Trude Grimm – kurz skizzieren?
Muthwill: Trude habe ich schnell ins Herz geschlossen. Sie ist Lehrerin, Ende 40, und lebt mit ihrem Mann, ihrem Vater und dem Sohn im Prenzlauer Berg. Die Familie hat mit den Folgen der Wiedervereinigung zu kämpfen, man erfährt, wie sie mit ihren Ängsten, Nöten und Konflikten umgehen. Trude ist auf ihre Art warmherzig, bodenständig, direkt und bescheiden. Sie und ihr Mann Benno pflegen einen sehr eigenen, bitteren Humor, der gleichzeitig für eine große Vertrautheit und Liebe steht.
Berger: Karl Blauhorn ist ein Ostbürger alten Schlages. Er lässt gern durchblicken, dass er auch vor der Vereinigung schon oft im kapitalistischen Ausland war und ihn das alles nicht mehr überraschen kann. Und er steht im Dauerkonflikt mit seinem Schwiegersohn: Auf der einen Seit lehnt er ihn ab, auf der anderen braucht er ihn, um sich an ihm abzuarbeiten. Er braucht die Wärme dieser Familie, aller Stänkerei zum Trotz.
Er schlurft ja immer wieder mal zur Tür herein …
Berger: … genau, und dann sagt er: „Hier ist alles vollgekleckert!“
Worum geht es eigentlich in „Wir sind auch nur ein Volk“?
Berger: Eine TV-Anstalt möchte eine Serie über den Osten produzieren … Muthwill: … um die Klischees, die Ost und West voneinander haben, abzubauen.
Berger: Dafür haben sie den Schriftsteller Steinheim engagiert, der ihnen erklärt, dass er nur darüber schreiben kann, wenn er sich die Wirklichkeit ansieht. Also quartiert er sich bei der Familie Grimm ein. Ost und West begegnen sich – und Steinheim begegnet seinen eigenen Vorurteilen.
Werden die Klischees vom „Jammerossi“ und „Besserwessi“ bedient oder eher umschifft?
Berger: Der Regisseur Maik Priebe möchte die Geschichte in Zuneigung zu den Figuren erzählen – eben nicht denunziatorisch.
Muthwill: Das Stück greift Klischees auf, spielt mit ihnen, meist lösen sie sich in Luft auf. Es wirft einen liebevollen Blick auf die Menschen an sich – egal, ob Ost oder West.
Potsdam ist ja ein sehr spezielles gesamtdeutsches Biotop. Erlebt ihr die Stadt eher als barocke „Insel der Seligen“ oder als Ort lebendiger, heutiger Debatten?
Berger: Sowohl als auch. Ich staune jeden Tag, wie schön es hier ist.
Mittlerweile weiß ich, dass einige dieser historischen Bauwerke so historisch nicht sind. Manche sprechen ja von „Disneyland“ – also, wenn es so aussieht, kann ich damit leben (lacht). Aber es ist trotzdem eine Stadt mit sozialen Spannungen, und ich finde es wichtig, dass man sich damit auseinandersetzt.
Muthwill: Ich erlebe auch beide Aspekte. Potsdam ist heute weder das eine noch das andere und war es früher auch nicht. Aber diese innere Zerrissenheit steht der Stadt sehr gut.
Berger: Neulich habe ich einer alten Dame über die Straße geholfen, einer Potsdamerin. Sie hat mich sofort als Westler identifiziert und fing an, über Ost-West zu sprechen. Früher habe sie in leitender Funktion in einem Betrieb gearbeitet und bekäme deshalb gut Rente, aber die im Westen hätten einfach alle mehr. Ich hab ihr dann von der Rente meiner Mutter erzählt, die sehr niedrig ist. Da schaute sie mich an und sagte: „Aber dann hat sie ein Haus!“ Und ich: „Nee.“ Diese Frau konnte sich nicht vorstellen, dass jemand aus dem Westen weniger besitzt als sie.
Hast du dich als Schauspieler zu erkennen gegeben?
Berger: Ja, klar. Sie sagte, sie sei zwar alt, aber sie liebe die Kultur. Darauf ich: „Dann kommen Sie zu uns ins Theater! Da gibt’s tolle Sachen. Es gibt auch Vorstellungen am Nachmittag oder frühen Abend. Nehmen Sie ruhig ein Taxi – Sie können sich das ja leisten.“ (alle lachen) Sie hat mir versprochen zu kommen.
Interview: Björn Achenbach
Wir danken dem DDR Museum Berlin, in dessen Räumen das Titelfoto entstand, und dem Mercure Hotel Potsdam, das dem Produktionsteam einen Videodreh im Konferenzraum ermöglichte!
veröffentlicht in ZUGABE MAGAZIN 01-2020
Joachim Berger: In der Arbeit mit den Kollegen spielt das für mich keine Rolle.
Kristin Muthwill: Das geht mir genauso. Trotzdem lassen sich unsere biografischen Wurzeln nicht leugnen. Das Verständnis von- und füreinander wächst, wenn man um die Sozialisation des anderen weiß, welches System ihn geprägt hat.
Wie würdet ihr eure bisherigen Ost-West-Erfahrungen beschreiben?
Muthwill: 30 Jahre Ost-West-Erfahrung – das ist lang. Und doch nicht vollständig überwunden. Ich komme aus einem Land, das es nicht mehr gibt – welch absurde Identität! Die Ost-West-Problematik wird mich sicher immer beschäftigen. Im menschlichen Miteinander ist der Unterschied kaum noch zu spüren. Als ich Anfang der Neunziger 19-jährig nach Hannover kam, prallten für mich zwei Welten aufeinander. Ich war neugierig, wollte wissen, was an den Vorurteilen dran ist. Klischees kommen nicht von irgendwoher. Trotzdem sind es Klischees. Es hat mich gereizt, das Andere. Seitdem lebte ich abwechselnd in beiden Teilen Deutschlands. Meine besten Freunde kommen aus Ost und West.
Berger: Ich hab 1987 mit einer Kollegin Sommertheater gespielt, die aus der DDR abgehauen war. Was sie mir über den Osten erzählt hat, öffnete mir den Blick in eine komplett andere Gesellschaft. Für die Zwänge, die Nöte, aber auch für das Gute. Als die Mauer fiel, war ich in Kassel engagiert, damals quasi Zonenrandgebiet. Unmittelbar nach dem 9. November war gefühlt der halbe Osten in Kassel. Die Begegnung Ost-West hatte etwas Außerordentliches, Exotisches. Später, in Neuss, mit Bettina Jahnke, einer ost-sozialisierten Intendantin, und Kollegen aus dem Osten war das dann völlig normal geworden.
Wie hast du denn vor deiner Begegnung mit der geflohenen ostdeutschen Schauspielkollegin die DDR wahrgenommen?
Berger: Ich bin zwar in Bayern aufgewachsen, stand aber politisch eher links, hab zum Beispiel für Willy Brandt Wahlkampf gemacht. Da hat man natürlich schon mitbekommen, was drüben los war.
Erschien dir der Sozialismus von Südbayern aus erstrebenswert?
Berger: Ich hab versucht, es so zu sehen, ja! Dabei bin ich in einer Welt groß geworden, in der die DDR so ziemlich das Schlimmste war, das man sich vorstellen konnte. Mein Vater hat wirklich einmal am Mittagstisch zu mir gesagt: „Ich habe Angst, dass du in die DDR gehst!“ Da war ich 16. Dem ging die Muffe, weil ich anders war.
Im Stück „Wir sind auch nur ein Volk“ gehört ihr beide ein- und derselben Familie an.
Berger: Vater und Tochter.
Muthwill: War’n wir ja schon mal – im „Schimmelreiter“. Wir sind schon geübt. (lacht)
Berger: Genetisch kennen wir uns bereits. (beide lachen)
Könnt ihr eure Figuren in dieser deutsch-deutschen Komödie von Jurek Becker – Karl Blauhorn und Trude Grimm – kurz skizzieren?
Muthwill: Trude habe ich schnell ins Herz geschlossen. Sie ist Lehrerin, Ende 40, und lebt mit ihrem Mann, ihrem Vater und dem Sohn im Prenzlauer Berg. Die Familie hat mit den Folgen der Wiedervereinigung zu kämpfen, man erfährt, wie sie mit ihren Ängsten, Nöten und Konflikten umgehen. Trude ist auf ihre Art warmherzig, bodenständig, direkt und bescheiden. Sie und ihr Mann Benno pflegen einen sehr eigenen, bitteren Humor, der gleichzeitig für eine große Vertrautheit und Liebe steht.
Berger: Karl Blauhorn ist ein Ostbürger alten Schlages. Er lässt gern durchblicken, dass er auch vor der Vereinigung schon oft im kapitalistischen Ausland war und ihn das alles nicht mehr überraschen kann. Und er steht im Dauerkonflikt mit seinem Schwiegersohn: Auf der einen Seit lehnt er ihn ab, auf der anderen braucht er ihn, um sich an ihm abzuarbeiten. Er braucht die Wärme dieser Familie, aller Stänkerei zum Trotz.
Er schlurft ja immer wieder mal zur Tür herein …
Berger: … genau, und dann sagt er: „Hier ist alles vollgekleckert!“
Worum geht es eigentlich in „Wir sind auch nur ein Volk“?
Berger: Eine TV-Anstalt möchte eine Serie über den Osten produzieren … Muthwill: … um die Klischees, die Ost und West voneinander haben, abzubauen.
Berger: Dafür haben sie den Schriftsteller Steinheim engagiert, der ihnen erklärt, dass er nur darüber schreiben kann, wenn er sich die Wirklichkeit ansieht. Also quartiert er sich bei der Familie Grimm ein. Ost und West begegnen sich – und Steinheim begegnet seinen eigenen Vorurteilen.
Werden die Klischees vom „Jammerossi“ und „Besserwessi“ bedient oder eher umschifft?
Berger: Der Regisseur Maik Priebe möchte die Geschichte in Zuneigung zu den Figuren erzählen – eben nicht denunziatorisch.
Muthwill: Das Stück greift Klischees auf, spielt mit ihnen, meist lösen sie sich in Luft auf. Es wirft einen liebevollen Blick auf die Menschen an sich – egal, ob Ost oder West.
Potsdam ist ja ein sehr spezielles gesamtdeutsches Biotop. Erlebt ihr die Stadt eher als barocke „Insel der Seligen“ oder als Ort lebendiger, heutiger Debatten?
Berger: Sowohl als auch. Ich staune jeden Tag, wie schön es hier ist.
Mittlerweile weiß ich, dass einige dieser historischen Bauwerke so historisch nicht sind. Manche sprechen ja von „Disneyland“ – also, wenn es so aussieht, kann ich damit leben (lacht). Aber es ist trotzdem eine Stadt mit sozialen Spannungen, und ich finde es wichtig, dass man sich damit auseinandersetzt.
Muthwill: Ich erlebe auch beide Aspekte. Potsdam ist heute weder das eine noch das andere und war es früher auch nicht. Aber diese innere Zerrissenheit steht der Stadt sehr gut.
Berger: Neulich habe ich einer alten Dame über die Straße geholfen, einer Potsdamerin. Sie hat mich sofort als Westler identifiziert und fing an, über Ost-West zu sprechen. Früher habe sie in leitender Funktion in einem Betrieb gearbeitet und bekäme deshalb gut Rente, aber die im Westen hätten einfach alle mehr. Ich hab ihr dann von der Rente meiner Mutter erzählt, die sehr niedrig ist. Da schaute sie mich an und sagte: „Aber dann hat sie ein Haus!“ Und ich: „Nee.“ Diese Frau konnte sich nicht vorstellen, dass jemand aus dem Westen weniger besitzt als sie.
Hast du dich als Schauspieler zu erkennen gegeben?
Berger: Ja, klar. Sie sagte, sie sei zwar alt, aber sie liebe die Kultur. Darauf ich: „Dann kommen Sie zu uns ins Theater! Da gibt’s tolle Sachen. Es gibt auch Vorstellungen am Nachmittag oder frühen Abend. Nehmen Sie ruhig ein Taxi – Sie können sich das ja leisten.“ (alle lachen) Sie hat mir versprochen zu kommen.
Interview: Björn Achenbach
Wir danken dem DDR Museum Berlin, in dessen Räumen das Titelfoto entstand, und dem Mercure Hotel Potsdam, das dem Produktionsteam einen Videodreh im Konferenzraum ermöglichte!
veröffentlicht in ZUGABE MAGAZIN 01-2020